Fressen und gefressen werden

Füllmasse Mensch: Renat Safiullin inszeniert Vladimir Sorokins Farce „Pelmeni“ im Theater unterm Dach

Pelmeni sind Teigtaschen, die man mit Käse oder Fleisch füllen kann. „Oder mit Steinen“, sagt die schmale junge Frau im weißen Rüschenunterrock. „Du musst die Füllung reindrehen, wie wenn du einen Käfer zertreten würdest“, wird die Kochanleitung präzisiert: „Hauptsache, es schmeckt!“ Aber hier schmeckt gar nichts mehr. Höchstens noch das Theater, genauer gesagt das Theater unterm Dach, wo Renat Safiullin jetzt einen sehr poetischen Theaterabend über das verwirrende Leben im postkommunistischen Brachialkapitalismus inszenierte.

Der Kommunismus ist tot, es leben die Pelmeni. Bei Vladimir Sorokin, einem Dichter und Postsowjetmenschen des Jahrgangs 1955, werden die Teigtaschen zum Symbol für den Wechsel der Systeme schlechthin: Füllung egal, Hauptsache Pelmeni. In drei drastischen Bildern serviert Sorokin eine deftige Farce über das neue Leben der alten Russen. Drei Paare, an denen er seine kulinarische Versuchanordnung durchexerziert. In einer heruntergekommenen Küche trifft man zunächst Iwanow und Iwanowa, er ein ehemaliger Fähnrich der Roten Armee, der jetzt Nachtwächter eines Fuhrparks ist, seine Frau, ehemals Fabrikarbeiterin, jetzt Frührentnerin. Langsam steigert sich die harmlose Szene zu einem Horrorfilm. Hier hilft keine gesellschaftliche Utopie. Der Mensch ist ein Wolf, in jedem System. Bild zwei zeigt eine einstige Offizierin samt Sohn, der zu einer Riesenpelmenitasche verarbeitet wird. In Bild drei sitzt ein mafiöses Paar an einer opulenten Tafel: Fressen und gefressen werden.

Safiullin lässt von Sorokins grob geschnitzen Szenen nur Umrisse übrig. Drei clowneske Figuren (Katja Langnäse, Samuel Kübler und Felix C. Voigt) schlüpfen hinein und machen aus dem drastischen Drama ein zartes Traumspiel über die Unzulänglichkeit der historischen Verläufe und deren brutalisierende Spuren in den Menschen. Die junge Frau (Katja Langnäse) erzählt Geschichten des Missbrauchs, später spielt sie ein schiefäugiges altes Mütterchen und schließlich eine Gangsterbraut. Felix C. Voigt ist, mit Lederhose über der bunten Radlerhose, für die gröberen Männerrollen in Sorokins Stück zuständig. Aus einem Auge fließt ihm die Schminke wie eine Blutspur übers Gesicht. Samuel Kübler gibt sanft und zurückhaltend mal den Erzähler, mal einen Diener und schlängelt sich im Morgenmantel fast asiatisch durch den Abend. Mit großem Körpereinsatz spielen sich die drei durch den Text, die leitmotivische Penetranz des Pelmeni-Motivs gelegentlich herzzerreißend auflockernd. ESTHER SLEVOGT

Weitere Vorstellungen 11.–14. Juli, Theater unterm Dach, Danziger Str. 101