Brave new TV world, revisited

Interaktive Menschenjagd, Millionengewinne und Werbeunterbrechungen: Mit der TV-Satire „Das Millionenspiel“ (22.00 Uhr, WDR) nahm Wolfgang Menge 30 Jahre medialer Entwicklung vorweg

von CHRISTIAN BUSS

Wenn er Pech hat, lebt Bernhard Lotz nur noch ein paar Stunden. Seit sechs Tagen wird er von Killern verfolgt; das gehört zu den Spielregeln der Reality-Show „Das Millionenspiel“. Entkommt Lotz, gewinnt er das sagenhafte Preisgeld. Entkommt er nicht, wird er beerdigt. Nun wäre ein Spielende mit Todesfolge betrüblich. Aber mal ehrlich: Was hätte der Kandidat schon zu verlieren, nachdem seine Mutter über seine Vergangenheit als ewiger Verlierer ausgepackt hat. „Ich war die Einzige, die an ihn geglaubt hat“, spricht sie dem gerührten Moderator der Sendung ins Mikro, während der Sohn vor den Kameras der Übertragungswagen um sein Leben rennt.

„Das Millionenspiel“, das nach zweimaliger Ausstrahlung 1970 für 32 Jahre im Giftschrank des WDR lagerte, ist ein visionäres Stück TV-Geschichte. 13 Jahre vor Einführung des Privatfernsehens und fast drei Jahrzehnte vor dem Reality-Boom lieferte diese Fernsehprophetie im Thrillergewand ein Szenario, das sämtliche Mechanismen der medialen Inszenierung und Ausbeutung vorwegnahm.

Dass der Film so lange nicht zu sehen war, hat juristische Gründe. Dem Drehbuch von Wolfgang Menge liegt eine Robert Sheckley-Story („The Prize of Peril“) zugrunde, für die man sich damals nicht ausreichend die Rechte gesichert hatte. Erst vor kurzem wurde das urheberrechtliche Hickhack geklärt, sodass die Show-Satire im Mai auf der Cologne Conference zur Wiederaufführung gebracht werden konnte. Zu spät, wird mancher sagen. Schließlich hat sich die Spirale der Sensationen, mit der die Macher von Reality-Produktionen einander auszustechen versuchten, hierzulande inzwischen ins Leere gedreht. Vor eingen Wochen erst floppte das aufgeblähte Terrorspielchen „Mission Germany“, für das eine Gruppe junger Menschen durch Deutschland gescheucht worden ist. Auch dies eine Treibjagd wie im „Millionenspiel“; der Zuschauer konnte nicht nur seinen Voyeurismus befriedigen, sondern aktiv ins Geschehen eingreifen. Doch die Resonanz auf die Pro-7-Show war bescheiden.

Der Wirkungskraft des„Millionenspiels“ tut das kein Abbruch, denn der Film erschöpft sich nicht in plakativer Medienpädagogik. Die mörderische Jagd ist für Menge und den Regisseur Tom Toelle die konsequenteste Ausprägung eines Systems, das die totale Selbstentäußerung von Zuschauern und Kandidaten zum Ziel hat. Der Apparat, mit dem hier der fiktive Sender TETV sein Spielermaterial medial auswertet, beschränkt sich nicht auf eine Show. Kandidat Lotz (von Jörg Pleva grandios gespielt) etwa hat schon in kleinformatigeren TV-Todesspielen seinen Überlebenswillen bewiesen: In der Sendung „Bahn frei“ nahm der junge Mann, der keinen Führerschein besitzt, an einem Autorennen teil. Für ein anderes Survival-Spektakel wurde er betäubt in einer fliegenden Sportmaschine zurückgelassen. Auch das hat der „sympathische Leverkusener“, wie er im Moderatoren-Slang gepriesen wird, überlebt.

Das fiktive Show-Konglomerat im „Millionenspiel“ erinnert frappierend an das ganz reale Endemol-Imperium. Die Promotion für eine Person bedeutet beim holländischen Show-Ausstatter ja auch zugleich dessen Penetrierung: Nur wer sein Innerstes nach Außen kehrt, kann bei Endemol als Sieger oder gar Star hervorgehen – ob er nun bei der „Traumhochzeit“ die erotischen Vorlieben seiner Braut ausplaudert oder, wie einst bei „Big Brother“, den Geschlechtsverkehr unter Nachtsichtkamera und Bettdecke vollzieht.

Tyrannei der Intimität

Menge beweist mit dem „Millionenspiel“ vor allem deshalb Weissagerqualitäten, weil er die Tyrannei der Intimität als bestimmendes Merkmal des modernen Showgeschäfts herausstellt: Unterbrochen wird das Rahmenprogramm der Fake-Sendung passenderweise von Werbespots, die für Antibaby-Spritzen und sexuell stimulierende Mineralwasser werben. Das Ganze kommt so authentisch daher, dass bei der Erstausstrahlung etliche Anrufe beim Sender eingingen. Einige Zuschauer fühlten sich in ihrer Würde verletzt – die meisten jedoch dienten sich ganz ernstlich als künftige Kandidaten an.

Später fuhr Menge noch einmal ähnliche Reaktionen ein: Mit „Smog“ simulierte der TV-Pionier 1973 mit Wolfgang Petersen eine Fernsehsondersendung angesichts der angeblichen Unweltkatastrophe an Rhein und Ruhr, die für erhebliche Verstörung sorgte. Im Gedächtnis geblieben ist der sardonische Glatzkopf aber vor allem wegen seiner erhellenden Einsätze als Talkmoderator im Dritten. Der heute 78-Jährige hat wie wenige andere die Möglichkeiten des Fernsehen genutzt – und zugleich reflektiert.

Es ist eine ironische Pointe, dass sein „Millionenspiel“ eleganter daherkommt als alle Shows, die in den 30 Jahren danach produziert wurden: Dieter Thomas Heck durchmisst als agiler Kampfkoodinator die Rundum-Arena. Und der fantastische Retrofuturismus, der sich in der Ausstattung nebst überhitzter Surf-Musik niederschlägt, würde auch einem Tarantino zur Ehre gereichen.