Weiche Determinanten

Ökonomien des Dazwischen (1): Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger sucht in den Forschungslabors der Biologen und Mediziner nach Zufällen – und nach künstlerischen Verfahren

Hilft Philosophie im Laborbetrieb? – Die Antwort ist ein kompliziertes Nein.

von NILS RÖLLER

Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Hans-Jörg Rheinberger, hat einen wechselhaften Weg zu seiner heutigen Position zurückgelegt. Die von ihm vorgelegte Studie „Experimentalsysteme“ ist das Produkt einer beruflichen Bewegung zwischen Biologie und Philosophie.

In den Sechzigerjahren studierte er zunächst zwei Semester Biochemie in Tübingen. Er bricht das Studium unzufrieden mit der Organisation des Praktikumbetriebs ab und entschließt sich, zunächst in Tübingen, dann in Berlin Philosophie zu studieren. In der Bibliothek des Berliner Instituts für Hermeneutik entdeckt er die aktuelle französische Philosophie. Er liest die Neuerscheinungen von Foucault, Derrida und Althusser. Mit Hanns Zischler entschließt er sich zur Übersetzung von Althussers Buch „Das Kapital lesen“. Doch die Übersetzung ist bereits vergeben, und so entscheiden sich der spätere Schauspieler Zischler und der künftige Wissenschaftshistoriker, Derridas „Grammatologie“ ins Deutsche zu übertragen. Die Übersetzung, die später bei Suhrkamp erscheint, ist eine Herausforderung und zugleich eine Verdienstmöglichkeit. Fahrten nach Paris und die Magisterarbeit über Althusser wollen finanziert werden.

Nach Abschluss des Philosophiestudiums beginnt Rheinberger noch einmal zu studieren, und zwar Biologie. Die Entscheidung hatte unterschiedliche Gründe. Da war zum Beispiel die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Wissenschaftsphilosophien, die alle gleichermaßen plausibel schienen und die dann die Neugier weckten, selbst eine naturwissenschaftliche Disziplin zu betreiben. Dann war da das nagende Unbehagen, das Studium der Biochemie einfach abgebrochen zu haben. Außerdem spielten bei der Entscheidung Tutorenstellen in der philosophischen Fakultät eine Rolle. Auf die eine oder andere hatte Rheinberger spekuliert, aber nicht bekommen.

Beim Studium der Biologie und später als Doktorand am Max-Planck-Instituts für Molekularbiologie wurde Rheinberger gefragt, ob ihm die Philosophie im Laborbetrieb, also beim Fällen, Wiegen, Notieren und Berechnen von biologischen Elementarteilchen helfe. Die Antwort ist ein kompliziertes Nein. Sie ist nachzulesen in „Experimentalsysteme“, deren Untertitel nüchtern eine „Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas“ ankündigt, aber zu der großen Frage nach dem Verhältnis von Technik und Wissenschaft Stellung bezieht. Rheinberger betont mit Heidegger, dass Technik der Ursprung der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist, er lehnt jedoch einen technischen Determinismus hab. Stattdessen zeigt er am Beispiel eines Labors am MGH (Massachusetts General Hospital) in Boston penibel, wie Zufälle und „weiche“ Determinanten zu einem erfolgreichen Forschungsbetrieb beitragen.

Rheinberger geht davon aus, dass Techniken Verdichtungen von lokalen Laborgewohnheiten sind. Dabei kommt es zu Umlenkungen und Abweichungen, die an künstlerische Verfahren erinnern. Das „technoopportunistische“ Wechselspiel zwischen Prinzipienwahrung und Freiheit der individuellen Forschung zeigt er am Beispiel des Laborleiters Paul C. Zamecnik. Über ihn schreibt Rheinberger, dass er „jede sich anbietende Gelegenheit beim Schopfe fasste“, um mit breitem Ansatz den biochemischen Grundlagen des Wachstums auf die Spur zu kommen.

Zamecnik promovierte 1936 an der Harvard Medical School zum Doktor der Medizin und begann sich während des Krieges für die Biochemie zu interessieren. Dieses Interesse kam ihm 1945 zugute. Es war eine Zeit leerer Kassen, in der die amerikanischen Krebsforscher vor den Kinos Spenden für ihre Untersuchungen sammelten. Als Schriftführer im Forschungskomitee am MGH schlug Zamecnik vor, an die Atomic Energy Commission heranzutreten. Er reichte selbst Forschungsanträge ein, in denen radioaktiv gekennzeichneten Molekülen eine besondere Bedeutung zukam. Statt der bisherigen 50.000 Dollar stand bald dank seiner Initiative die sechsfache Summe zur Verfügung. Eine wichtige Folge der Experimente mit der radioaktiven Tracer-Technik war, dass man in Boston Abstand von Untersuchungen am lebenden Gewebe von Ratten nahm. Alternativ dazu begann man, Extrakte von Rattenleber in Reagenzgläsern zu verwenden. Im Zuge dieser Entwicklung verschob sich in der Bostoner Laborpraxis die Grenze zwischen lebendem natürlichem Gewebe und künstlich gewonnenen Homogenaten.

Neben den einfachen Handlungsanweisungen, die in Zamecniks Labor zu beachten waren, nennt Rheinberger Ausdauer und eine besondere Forschungsphilosophie als Gründe für den erfolgreichen Laborbetrieb. Zamecnik betrieb nicht Forschung mit dem Ziel, einen ersten Platz in der Wissenschaft zu erlangen, sondern achtete darauf, dass seine Forscher selbstständig und an verschiedenen Fragestellungen arbeiteten. Erfolgreich nennt Rheinberger das amerikanische Labor, weil es in einer bewegten und konkurrenzreichen internationalen Forschungslandschaft über zwanzig Jahre an einer Vielfalt von Fragen arbeitete, die stets neue Aufgaben und Kompetenzen generierte.

Seine eigene Studie versteht Rheinberger als Fetzen und Flicken einer Ökonomie der epistemischen Dinge. Ihr Forschungsziel ist die Darstellung der Techniken, die Bewegungen in einem Wissensraum antreiben. Dem listenreichen Zamecnik in Rheinbergers Studie gelingt es, über zwanzig Jahre einen stabilen Rahmen für „Differenzmaschinen“ zur Erzeugung von Fragestellungen zu erhalten. Wie diese Maschinen in der umgebenden Kultur produktiv werden, ist eine Frage, die den Rahmen der Studie sprengt.

Die taz-Serie „Ökonomien des Dazwischen“ möchte den Spuren an den Rändern von Laborbetrieben und Think-Tanks nachgehen und Vermittler zwischen Wissenschaft, Kunst und Technik porträtieren. Im nächsten Artikel gewährt Charles Wilp Einsichten in seinen Werkzeugkasten und zeigt, wie Laborwissen und Zubehör aus der Weltraumtechnik zum Bau einer schwerelosen Nische eingesetzt werden können.

Hans-Jörg Rheinberger: „Experimentalsysteme und epistemische Dinge – Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas“. Wallstein Verlag. Göttingen 2001, 344 Seiten, 24 €