Die Feigheit vor dem Wähler

SPD und Union wetteifern um die wirkungsvollste Rhetorik der Begrenzung. Nur die drei Kleinparteien erinnern an die Realität des Einwanderungslandes

von LUKAS WALLRAFF

Wenn der ADAC schimpft, bekommt auch der umweltfreundlichste Verkehrsminister Angst – und baut die nächste Autobahn. Wenn die Gewerkschaften mit Streik drohen, wird aus dem „Genossen der Bosse“ ganz schnell wieder ein Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Nur für die Migranten in Deutschland gibt es diese Einflussmöglichkeiten kaum. Wenn der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde droht, Otto Schily werde für rechtspopulistische Sprüche „keine Stimme der türkischen oder anderen Minderheiten bekommen“, führt das höchstens zu Achselzucken im Innenministerium. Von den rund 2,4 Millionen Menschen türkischer Abstammung dürfen weniger als 300.000 wählen.

Die Migranten sind auch unter Rot-Grün das geblieben, was sie immer waren: Objekte einer Politik, die sich an den Sorgen und Ängsten der wahlberechtigten Mehrheit orientiert. „Ich sag’s Ihnen mal ganz ehrlich“, gibt ein führender SPD-Politiker zu, der aber bitte nicht genannt werden möchte, „alles, was mit Einwanderung zu tun hat, ist eben kein Winner-Thema.“

Daran hat auch das neue Staatsangehörigkeitsrecht nichts geändert. Ganz im Gegenteil: Nach den Protesten der Union und der verlorenen Hessenwahl wurde es so unattraktiv gestaltet, dass sich nur wenige Migranten einbürgern ließen. Im ersten Jahr, 2000, holten sich von insgesamt 7,3 Millionen Ausländern gerade mal 186.688 einen deutschen Pass.

„Deutsches Interesse“

Weitere Erleichterungen bei der Einbürgerung wollen trotzdem nur die Grünen und die PDS. Die SPD erklärt das Projekt in ihrem Wahlprogramm für abgeschlossen. Seit dem Flop mit dem „Doppelpass“ setzt die rot-grüne Politik andere Prioritäten. „Im deutschen Interesse“ sei das neue Zuwanderungsgesetz, versicherte die Bundesregierung in ganzseitigen Zeitungsanzeigen. „Das Gesetz wird die Zahl der Zuwanderer deutlich verringern.“

Der Opposition fällt es sichtlich schwer, sich gegen eine derart defensive Regierung zu profilieren. Zwar klagen die unionsregierten Länder in Karlsruhe gegen das neue Gesetz, und Edmund Stoiber will „sofort nach der Wahl“ ein neues Gesetz vorlegen, das die Zuwanderung nun aber wirklich, endlich und vor allem drastisch begrenzt. Aber zum zentralen Angriffspunkt hat Stoiber das Thema nicht gemacht. „Die Zuwanderung hat als Wahlkampfthema nicht oberste Priorität“, sagt sein Schatten-Innenminister Günther Beckstein. Die Union sagt bisher nur das, was sie eben sagen muss, um nicht vom Innenminister der rot-grünen Regierung rechts überholt zu werden.

Eigentlich wissen alle, von Stoiber bis Schily: Mit ihrem Wettstreit um die wirkungsvollste Begrenzungsrhetorik sprechen sie nicht nur den Migranten ihr Misstrauen aus, die schon hier leben. Sie belügen auch die deutschen Wähler. Weil sie eine Zukunft vorgaukeln, in der die Deutschen weitgehend unter sich bleiben können.

Aber egal wer am 22. September gewinnt: Die nächste Bundesregierung wird um eine ehrliche Bestandsaufnahme nicht mehr herumkommen. Dazu gehört auch eine kritische Bilanz der Integrationsprobleme, deren Lösung nicht nur Beckstein anmahnt: „Wer nicht dort lebt, wo die Integrationsleistungen schon vor der Haustür beginnen müssen, redet sich die Ausländerprobleme gerne schön.“

Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz schreibt verpflichtende Sprachkurse nur für Neuzuwanderer vor. Deren Finanzierung ist ebenso wenig geklärt wie die „nachholende Integration“ der früheren „Gastarbeiter“. Auch eine wiedergewählte Schröder-Regierung stünde bei der Integration erst am Anfang.

Vor allem aber muss die nächste Bundesregierung eine neue Geisteshaltung entwickeln. Als der Wahlkampf noch fern war, hat das auch der CDU-Zuwanderungsexperte Peter Müller noch zu Protokoll gegeben. „Zuwanderung ist auch Bereicherung“, sagte Müller vor einem Jahr. Der alte Glaubenssatz der Union, Deutschland sei kein Einwanderungsland, sei „ungefähr so haltbar wie die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe“.

Viel zu unpopulär

Diese Erkenntnisse waren für Unionsverhältnisse revolutionär – und viel zu unpopulär, um ein Jahr später im Wahlprogramm der CDU/CSU auch nur ansatzweise aufzutauchen. Auch die SPD tut wieder so, als ließe sich das Problem der negativen Bevölkerungsentwicklung ohne Zuwanderung lösen; von „Bereicherung“ ist nicht mehr die Rede.

Das Punktesystem, mit dem eine gesteuerte Zuwanderung aus demografischen Gründen vorsichtig ausprobiert werden sollte, wurde zwar im Zuwanderungsgesetz belassen. Es soll aber laut Innenminister Schily „frühestens 2010“ in Kraft treten. Selbst nach einer Schätzung der CDU wird der Anteil der über 60-Jährigen bis dahin aber schon auf über 25 Prozent gestiegen sein.

Eine Antwort darauf, wer im Jahr 2030 die Renten zahlen soll, wenn bereits jeder Dritte zu den Senioren zählt, kann keine Partei geben. Dass Einwanderung allein nicht die Lösung sein kann, ist selbstverständlich. Doch die großen Parteien erwecken den Eindruck, als gäbe es in dieser Frage ein Entweder-oder. Die Feigheit vor den deutschtümelnden Wählern dominiert bei der Union ebenso wie bei den Sozialdemokraten.

Nur die kleinen Parteien, FDP, Grüne und PDS, trauen sich noch, an die Erkenntnisse der Zuwanderungskommission unter Rita Süssmuth vom Sommer 2001 zu erinnern. Die hatte klar gemacht, dass sich notwendige Reformen in der Arbeitsmarkt- oder Rentenpolitik und Zuwanderung keineswegs ausschließen, sondern ergänzen müssen.

Die Süssmuth-Kommission hatte auch festgestellt, dass es schon jetzt in bestimmten Arbeitsmarktbereichen Engpässe gibt. Gemeint waren damit nicht nur die Spezialisten aus der IT-Branche, sondern auch Jobs im Pflegebereich, in der Landwirtschaft und in der Gastronomie, für die sich einfach keine Deutschen finden – wie selbst viele Unionsminister aus Bayern und Hessen offen einräumen.

Nur für Spitzenkräfte

Die Wahlkampfstrategen schert das wenig. Für Arbeitsmigration nach Deutschland gebe es „nur in Ausnahmefällen eine Rechtfertigung“, heißt es im CDU/CSU-Wahlprogramm. Nur für „ausländische Spitzenkräfte“ will die Union in Zukunft „verstärkt offen sein“. Wer das allerdings sein soll, bleibt unklar. Indische IT-Spezialisten jedenfalls nicht – denn: „Wir erteilen einer Ausweitung der Zuwanderung aus Drittstaaten eine klare Absage.“ Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit sei „mehr Zuwanderung nicht verantwortbar“.

Manche Ankündigungen der großen Parteien sind so absurd, dass sie sich nach der Wahl einfach in Luft auflösen werden. Bei einer schwarz-gelben Koalition wird die FDP zumindest dafür sorgen, dass die Forderungen der Wirtschaft nach mehr Arbeitsmigration erfüllt werden. „Wir werden uns vielleicht nach diesem Gesetzentwurf noch zurücksehnen“, warnte der frühere Postminister Christian Schwarz-Schilling (CDU) seine Partei.

Im humanitären Bereich sind die Gestaltungsmöglichkeiten der nächsten Regierung viel enger, als es die Union glauben machen will. Schon das rot-grüne Zuwanderungsgesetz richtet sich weitgehend nach internationalen Verpflichtungen wie der Genfer Konvention. Und selbst die Grünen setzen sich nicht mehr dafür ein, dass nichtstaatlich Verfolgte Asyl erhalten.

Spielräume beim Asyl

Für die Migranten ist es trotzdem keineswegs egal, wer künftig regiert. Viele Teile des Zuwanderungsgesetzes lassen sich so oder so auslegen – restriktiv oder großzügig. Bei seinem letztlich erfolglosen Versuch, einen Kompromiss zwischen CSU und Grünen zu finden, hat Schily viele Ermessensspielräume eingebaut. Ob etwa die möglichen Ausnahmereglungen beim Familiennachzugsalter genutzt werden oder nicht, hängt stark davon ab, welche Direktiven die nächste Regierung ausgibt.

Gerade bei diesen Detailfragen, die im Einzelfall entscheidend sein können, haben die Grünen einige Verbesserungen erreicht. Eine solche Bremserrolle würden auch die Liberalen einnehmen – falls sie sich an ihre Versprechen halten. „Noch mehr Restriktionen kommen für die FDP nicht in Frage“, sagt ihr innenpolitischer Sprecher Max Stadler.

Auch bei der anstehenden Harmonisierung des europäischen Asylrechts kommt den kleinen Parteien eine entscheidende Rolle zu. Weder der Union noch der SPD ist es zuzutrauen, dass sie als Vorkämpfer für liberale Regelungen auftritt. Im Gegenteil: Gerade der SPD-Minister Schily tat sich in Brüssel bisher als Hardliner hervor.

Der Kampf gegen die Lebenslüge der Deutschen, sie kämen ohne nennenswerte Zuwanderung aus, wird auch nach dem 22. September mühsam bleiben. Zumindest der Wahlverlierer unter den großen Parteien wird weiter kurzfristig denken und an niedere Instinkte appellieren. Eine Regierung aber, die sinnvoll gesteuerte Einwanderung verhindert und nichts für Integration tut, wird am Ende bestraft. Von den dringend benötigten Arbeitskräften nämlich, die ganz einfach fernbleiben werden.