Das Böse hinterm Deich

Der erste Fall der neuen NDR-„Tatort“-Kommissarin Charlotte Lindholm führt geradewegs aufs platte Land in den Kreis Vechta und dringt dort tief ins Mark dörflicher Sozialstrukturen ein (ARD, 20.15 Uhr)

Von CLEMENS NIEDENTHAL

Eine der schönsten, weil melancholischsten Sequenzen in der über dreißigjährigen Tatort-Geschichte geht ungefähr so: Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) öffnet das Stahlkurbeldach seiner eierschalfarbenen Opel- Limousine, steckt den Kopf durch die Luke und lässt seinen immer ein wenig schwermütigen Blick über karge Weiten schweifen. Kein Baum, ja kaum einmal ein Busch, hinter dem sich das Böse verstecken könnte. Und doch hat das Verbrechen auch hier, im nördlichen Schleswig-Holstein, ein Zuhause. Zwischen Deich und Dorfkrug. Zwischen zerfallenen Feldscheunen und nicht einlösbaren Zukunftsversprechen.

Von 1971 bis 1978 führten die Ermittlungsreisen des NDR-Kommissars immer wieder tief ins norddeutsche Hinterland. Finkes Fälle wurden zu einer Ethnographie der Provinz. Und zur Blaupause für Kriminalerzählungen, die den ewigen Chiffren des Urbanen genauso misstrauen wie jenem verklärten Blick auf alles Ländliche, der von Heimatfilm bis Musikantenstadl zum Inventar des öffentlich-rechtlichen Sendungsbewusstseins gehört. Der SWF-Tatort „Tod im Häcksler“ folgte Finkes Spur. Oder die ORF-Folge „Passion“ mit einer wunderbaren Sophie Rois in der Ermittlerinnenrolle. Beide Filme gelangen tief ins Mark dörflicher Sozialstrukturen. Und siehe da: Schön ist Heimat oftmals nur von außen.

Auch der neue NDR-Tatort „Lastrumer Mischung“ wählt diesen Weg. Und mit ihm Dr. Maria Furtwängler. Die Ärztin. Die Verleger-Gattin. Die Charity-Lady. Die zweifache Mutter. Wie die Pressemappe zu erzählen weiß.

In ihrem Debüt als Tatort-Kommissarin gefällt Maria Furtwängler durch einen angenehm zurückhaltenden Auftritt. Was nach all dem Starkult, den der Norddeutsche Rundfunk zuletzt um seine Fernsehkommissare betrieb, schon verwundern darf. Keine Gesangseinlagen wie bei Charles Brauer und Manfred Krug. Keinen Familienanschluss wie bei Robert Atzorn, der weiterhin und parallel zu Furtwängler für den NDR ermitteln wird. Maria Furtwängler als Hauptkommissarin Charlotte Lindholm, die im silbernen Volkswagen von Hannover nach Lastrum braust. Denn in Lastrum ist ein Mord passiert. Mehr braucht vorerst nicht zu interessieren.

Mit der Figur der Charlotte Lindholm greifen die Drehbuchautoren Volker Nebe und T. U. Hemjeoltmanns auf eine alte Tatort-Tradition zurück: Auch die großen Aufklärer der Siebzigerjahre – neben dem bereits erwähnten Finke etwa die Kommissare Veigl (Gustl Bayrhammer) oder Haferkamp (Hansjörg Felmy) – offenbarten sich dem Publikum immer nur aus ihrem kriminalistischen Wirken heraus. Dass Tatort-ErmittlerInnen ein Privatleben haben, ist eine Erfindung der Schimanski-Ära. Ganz ohne ein solches kommt allerdings auch Charlotte Lindholm nicht aus. Das Drehbuch lässt sie Radiogeräte sammeln und eine Altbauwohnung mit dem liebenswert-wunderlichen Walter (Ingo Naujoks) teilen. Der verdingt sich, so der selbstreflexive Witz im Film, als Autor von Kriminalromanen.

Die blonde Hauptkommissarin verbringt ihre Nächte in „Lastrumer Mischung“ zumeist hinter den schweren Gardinen des dortigen Dorfgasthofs. Ein Ort, der längst zur Metapher für die Zukunftsängste der Menschen in Lastrum geworden ist. Warum die Gästezimmer modernisieren, wenn ohnehin nur noch ein paar Handlungsreisende und eine Kriminalpolizistin um Quartier fragen?

In Lastrum, Landkreis Vechta, ist jene „Ungleichzeitigkeit“ deutlich spürbar, als die Ernst Bloch einst die Distanz zwischen Urbanität und Provinz benannt hat. Und in Lastrum könnte man gut mit dieser Ungleichzeitigkeit leben. Wären da nicht einige potente Investoren und ihr Plan, einen modernen Baumarkt auf die sprichwörtlich grüne Wiese am Dorfrand zu stellen. Ein Vorhaben, das nicht nur den örtlichen Bauunternehmer um seine Existenz, sondern das dörfliche Sozialgefüge in gehörige Schieflage bringen würde. Aber vergiftet der Bürgermeister deshalb den Eigentümer jener Wiese; den Jungbauern Johann, der gerade erst die Philippinin Maria (Minh-Khai Phan-Thi) geheiratet hat? Eine Frau aus dem Katalog, wie man in Lastrum munkelt.

„Lastrumer Mischung“ setzt da an, wo die Erzählungen über das Dorf am schmerzlichsten, aber auch am spannendsten sind: An der Schnittstelle von Provinz und Spätmoderne. Von privaten Träumen und globalen Wirklichkeiten. Ein sympathisch geratenes Debüt, dass auf gelungene Fortsetzungen hoffen lässt, zumal Charlotte Lindholm auch mittelfristig nur auf dem flachen Land ermitteln wird. Ihr nächster Fall wird sie an die Nordseeküste führen. Zwischen Deich und Dorfkrug sozusagen.