Künstlers Hausdrache

Es siegt die Kunst gegen das Leben, doch der Literatur geht die Luft aus: Von Martin Kessel, Autor von „Herrn Brechers Fiasko“, sind zwei Romane neu herausgekommen

Nein, unter dem Label Berlinroman lassen sich diese beiden Romane Martin Kessels, die der Schöffling Verlag neu herausgegeben hat, nun wirklich nicht fassen. Anders als der fulminante Auftakt der kleinen Werkauswahl mit „Herrn Brechers Fiasko“ (1932), in dem das Genre des deutschen Angestelltenromans zu literarischen Höhen getrieben worden ist, belegen der Nachfolger „Die Schwester des Don Quijote“ (1938) sowie der späte Roman „Lydia Faude“ (1965) vor allem eins: „Die Kunst hat mit der Realität nur dies gemein, dass sie selber eine zu sein hat – auf welche Weise, das ist ihre Freiheit.“ Diesen Aphorismus hat Kessel seinem zweiten Roman als Motto vorangestellt.

In „Die Schwester des Don Quijote“ hat Kessel sich die Freiheit genommen, ein nahezu klassisches, bei Balzac und Zola zu höchsten Ehren gekommenes Thema zu variieren: Ein junger Maler, Theo Schratt, erhält den Auftrag, Saskia Skorell zu malen, und Schratt verliebt sich in die geheimnisvolle, auratisch umwölkte Schöne. Auf einer zweiten Ebene drängelt sich Alltäglichkeit in die Szene. In Gestalt des Hausdrachen Frau Veitzuch, die alles daran setzt, den jungen Mann durch Fürsorge zu „mollestieren“, geraten Kunst und Leben durcheinander. Am Ende, und darin ist einer Lesart Recht zu geben, die in Kessels Roman ein spätromantisches Produkt sieht, siegt die Kunst. Schratt vollendet sein Chef d’oeuvre – über dem Leichnam von Frau Veitzuch, die als störender Querstrich auf dem Bild „anweste“.

Nichts ist allerdings von der Entstehungszeit in diesem Roman zu spüren. Auf eigentümliche Art lässt der Erzähler seine Geschichte beinahe zeitlos erscheinen. Der Rückzug in die Kunst mag für Martin Kessel ein Bollwerk gegen den faschistischen Zeitgeist bedeutet haben. Doch umso irritierender ist die Beobachtung, dass auch sein Anfang der Sechziger entstandener Roman „Lydia Faude“ genauso unkonkret ausschaut.

Kessel hat hier einen Roman über die zugleich vor- wie nachgerade postmoderne nackte Oberfläche geschrieben, über die Lebenskunst jener titelgebenden Lydia Faude und der Ihren. Sie hält sich am liebsten im Talmiglanz der Demimonde auf, bei angegrauten Lustgreisen, in einer Welt des Scheins ohne Solidität und bürgerliche Rechtschaffenheit. Dafür hat sie diesen sturen Blick auf die Realisierung eines möglichen Erbes und den genauso starren auf den geeigneten Mann für gewisse Fälle oder das ganze Leben, wobei sie nach pausenlosem Schwadronieren prompt auf den Großkriminellen „Ten Dam“ alias Edmund Heckscher hereinfällt.

Am Ende hat gar nichts geholfen; die gewesene Schauspielerin Lydia Faude mit ihrer zu „Höchstem berufenen Einmaligkeit“ muss weiter gemeinsam mit ihrer Schwester Alice kleine Brötchen backen. Resigniert das Schlusswort: „Soll ich denn nichts als niemand sein?“

Vermutlich ja, muss der nach 530 Seiten nun doch arg angestrengte Leser denken, der einen gemäßigt satirischen, erzähltechnisch hausbackenen Roman hinter sich hat. Zudem einen Text, der zu belegen versteht, dass Literatur auch aus purem Sprach- und Wörterspiel möglich ist und sein darf, freilich in lichten Höhen auch die Luft (und damit unsere Leselust!) auszugehen droht. WERNER JUNG

Martin Kessel: „Die Schwester des Don Quijote“. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 240 Seiten, 18,50 €Ľ„Lydia Faude“. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 539 S., 26,50 €