Provokation für Fortgeschrittene

Larry Siedentops Thesen über die künftige „Demokratie in Europa“ sind intelligent und anregend – aber leider zu abstrakt. Sicher ist nur eins: Wenn’s mit dem europäischen Föderalismus nichts wird, sind die Franzosen schuld. Kein Wunder, dass das Buch in Frankreich noch nicht erschienen ist

Im Gegensatz zu den Gründern Amerikas fehlt den Europäern ein Grundkonsens

von CARSTEN SCHYMIK

Im Sommer 1787 versammelte sich in Philadelphia ein Konvent, um im Laufe von drei Monaten die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu entwerfen. Im Jahr 2001 trat in Brüssel ebenfalls ein Konvent zusammen – um drei Jahre lang über eine Verfassung für die Europäische Union zu beraten. Das Problem damals wie heute: Kann ein bestehender Staatenbund zu einem Bundesstaat weiterentwickelt werden? Die Europäer könnten sich also durchaus ein Beispiel an den USA nehmen, um eine föderale Verfassung für die EU zu diskutieren.

Für den gebürtigen Amerikaner Larry Siedentop, Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Oxford, ist eine solche am US-Föderalismus orientierte Verfassungsdebatte längst überfällig. Zwei Jahre nach Erscheinen des englischen Originals ist sein Essay über „Demokratie in Europa“ nun auch in deutscher Übersetzung erschienen. In Großbritannien wurde das Buch mit viel Lob bedacht. Und auch hierzulande sind die Reaktionen allenthalben so positiv, dass man versucht ist zu fragen, ob Siedentop sein Anliegen nicht verfehlt hat, nämlich einen veritablen Streit über die demokratische Zukunft Europas anzuzetteln.

Vielleicht liegt der Mangel an erfolgreicher Provokation daran, dass Siedentops Buch keiner so recht versteht. Denn: Er ist Spezialist für politische Ideengeschichte und entsprechend theoretisch sein Blick auf das europäische Demokratieproblem. Die Geschichte der Integration nach 1945 lässt er dabei ebenso außer Acht wie Einzelheiten der Europäischen Verträge von Rom bis Nizza, obwohl diese ja faktisch die gegenwärtige Verfassung der EU bilden. Seine Analysen und Argumente sind gedanklich wie stilistisch klar, doch über weite Strecken so abstrakt, dass sich kaum jemand direkt provoziert fühlen muss.

Einen konkreten Vorschlag zur künftigen Verfassung der EU macht Siedentop immerhin. Und der fordert Widerspruch heraus. Es ist sein Plädoyer für die Einrichtung eines „Senats“ als zweiter Kammer des Europaparlaments. Wie in den USA soll dieser Senat aus Abgeordneten der Mitgliedsstaaten bestehen. Allerdings will Siedentop die Senatoren nicht direkt vom Volk wählen lassen, sondern indirekt aus den Reihen der nationalen Parlamente. Davon verspricht er sich eine engere Verflechtung der politischen Eliten auf nationaler und europäischer Ebene und damit mehr demokratische Legitimität für die EU.

Siedentop setzt den Reformhebel also beim Europaparlament an. Ausgerechnet an jenem EU-Organ, das von allen den geringsten Einfluss auf die europäische Gesetzgebung besitzt, aber als Einziges von sich behaupten kann, kraft Direktwahl demokratisch legitimiert zu sein. Die Europäische Kommission und der Ministerrat jedoch, wo sich das europäische Demokratiedefizit in Wirklichkeit konzentriert, bleiben bei ihm ausgespart.

Wie merkwürdig die Idee eines EU-Senats vor diesem Hintergrund ist, wird deutlich, wenn wir sie auf das föderale Regierungssystem der Bundesrepublik übertragen. Wäre Deutschland so aufgebaut wie die heutige EU, hätten Parlament und Ländervertretung vertauschte Rollen. Der Bundesrat würde nicht nur an der politischen Willensbildung auf Bundesebene mitwirken, sondern im Regelfall die Gesetze selbst machen, die der Bundestag dann allenfalls korrigieren könnte. Doch statt den mächtigen Bundesrat zu demokratisieren, läuft Siedentops Vorschlag darauf hinaus, den in diesem Modell schwächeren Bundestag durch ein zweites Parlament aus Länderabgeordneten nochmals zu spalten. Der Einfluss des Parlaments auf die Bundesgesetzgebung würde folglich weiter schwinden, während die Machtfülle des Bundesrats weiter anwachsen würde.

Mit dem demokratischen Vorbild der USA hat Siedentops EU-Senat auch wenig gemein. Denn im Unterschied zu den amerikanischen hätten die europäischen Bürger keinerlei Einfluss auf die Auswahl der Senatoren. Praktisch wäre daher eher zu befürchten, dass ein solcher Senat einem deutschen Rundfunkrat ähneln würde, dessen Mitglieder unter Ausschluss der Öffentlichkeit unter den Parteien ausgekungelt werden. Wie sich daraus eine Stärkung der Demokratie in Europa ergeben soll, erscheint rätselhaft.

Abgesehen von der Senatsidee interessiert Siedentop allerdings weniger die konkrete Ausgestaltung einer EU-Verfassung als vielmehr die informellen Grundlagen für einen demokratischen Bundesstaat Europa. Was er darunter versteht, verdeutlicht er an der Verfassungsgebung der USA. Jenseits aller politischen Meinungsverschiedenheiten hatten die amerikanischen Föderalisten viele Gemeinsamkeiten. Sie waren vereint in der Gegnerschaft zum britischen Imperium und in der Erfahrung lokaler Selbstverwaltung. Zudem gab es eine relativ offene politische Klasse, ein gemeinsames protestantisch geprägtes Staatsverständnis sowie nicht zuletzt eine gemeinsame Sprache.

Siedentops Befund für Europa fällt demgegenüber letztlich vernichtend aus. Den Europäern fehlt nicht nur in jeder Hinsicht ein den amerikanischen Verfassungsvätern vergleichbarer Grundkonsens. Die demokratische Entwicklung der EU wird darüber hinaus durch drei Hindernisse in eine gefährliche Richtung gelenkt.

Erstens begünstigt der Zeitgeist generell eher „ökonomistisches“ Denken und behindert dadurch die Diskussion über die politische Dimension der europäischen Integration. Zweitens konkurrieren mit Frankreich, Großbritannien und Deutschland zugleich drei verschiedene Staatsmodelle miteinander, die im Hinblick auf die EU kaum zu versöhnen sind.

Und: Drittens ist das Hauptproblem Frankreich, oder genauer die französische politische Elite. Diese habe, so Siedentop, bislang die größten Leistungen für die Einigung Europas erbracht, trage damit aber auch die Hauptverantwortung für das heutige Demokratiedefizit der EU. Eine weitere Föderalisierung Europas à la française könnte daher zu „hässlichen Reaktionen innerhalb der Mitgliedsstaaten führen, ja möglicherweise sogar zu neuen Formen von Diktatur“.

Wenn sich jemand durch Siedentops Euroskepsis angegriffen sehen könnte, dann sind es die Fürsprecher des französischen Staatsmodells in der EU. Freilich ist Französisch die einzige europäische Sprache, in dem Siedentops Buch bislang nicht erschienen ist. Vielleicht ist dies die beste Erklärung für den ausbleibenden Streit: Der Provokateur hat schlichtweg seine Zielgruppe noch nicht erreicht.

Larry Siedentop: „Demokratie in Europa“. 366 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 25 €