„Die Welt mit andren Augen sehen“

„Die Haltung, wir dürften die USA nicht kritisieren, ist weder nötig noch akzeptabel“

Interview BETTINA GAUS

taz: Herr Lamers, wie groß ist die Wehmut, wenn man nach sechs Legislaturperioden aus dem Bundestag ausscheidet?

Karl Lamers: Wehmut gehört eigentlich nicht zu den Gefühlen, die ich mir gestatte, öffentlich auszudrücken. Aber natürlich gibt es sie.

Sie werden sich aber doch gewiss weiter einmischen?

Das habe ich nicht vor, weil ich solche Versuche der Einmischung aus Altherrenklubs heraus kenne. Die Debatte dort ist fast immer dieselbe: Wenn wir noch dran wären, dann wäre alles anders – also besser. Das ist unsinnig.

Führen wir also Ihr vielleicht letztes öffentliches Gespräch. Sie haben einmal gesagt: „Außenpolitik beginnt damit, dass man sich selbst mit den Augen der anderen sieht.“ Haben Sie den Eindruck, dass Sie derzeit in Washington damit auf Verständnis stoßen würden?

Dieser Satz sagt ja etwas sehr Fundamentales. Die Forderung setzt voraus, dass man überhaupt dazu fähig ist, die Welt und auch sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen. Wenn man die erfolgreichste Gesellschaft der Welt ist – und das sind die Amerikaner –, dann ist man dazu kaum in der Lage. Dann denkt man automatisch: Das, was gut ist für Amerika, ist auch gut für die Welt.

Sie werfen den Amerikanern also vor, dass sie außerstande sind, sich in andere hineinzuversetzen.

Ja. Die Europäer haben genauso gedacht, als sie ähnlich erfolgreich waren. Und die Deutschen, obwohl nicht die erfolgreichsten unter den Europäern, haben seinerzeit den unwahrscheinlich dümmlichen Spruch geprägt, es solle am deutschen Wesen dereinst noch mal die Welt genesen. Erfolg schafft eben auch Probleme. Es gibt das amerikanische Sprichwort: „Nothing succeeds like success“

„Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg“ …

… Ja. Das gilt aber eben nur so lange, wie sich die Grundbedingungen für den Erfolg nicht ändern. Wenn die sich ändern, dann kann der Erfolg sogar sehr hinderlich sein.

In welcher Hinsicht haben sich denn die Grundbedingungen für den Erfolg der USA verändert?

Durch das, was man Globalisierung nennt. Der Grunderfolg Amerikas beruht wesentlich auf dem Umstand, dass sie eine Gesellschaft waren, die sich, unbeschadet der Welthändel, entfalten konnte. Sie konnte sich Isolationismus leisten, und sie ist immer stärker und immer mächtiger geworden. Damit verbunden war die objektive Unverwundbarkeit. Das ist ein Faktum, das man in seiner Bedeutung gar nicht überschätzen kann – eine einzigartige historische Erfahrung. Die Europäer haben davon auch geträumt, aber schon seit dem Mythos von Achill wissen wir, dass es ein Traum blieb. In den USA war es dagegen Realität.

Das ist vorbei.

Das ist vorbei. Sie haben es am 11. September gemerkt. Objektiv waren sie vorher schon verwundbar – es gibt ja Fernraketen –, aber es gab im amerikanischen Bewusstsein vorher keine vergleichbare Erfahrung der Verwundbarkeit. Und man darf nie vergessen: Der Unverwundbare ist auch der Unbesiegbare. Für die Dominanz Amerikas und für seine internationale Rolle war das eine zentrale Grundlage. Unverwundbarkeit bedeutet auch Unabhängigkeit. Diese zu erhalten ist Kernmotiv amerikanischer Außenpolitik – früher mittels Isolationismus, heute mittels Unilateralismus.

Erklärt sich daraus der Widerstand gegen den Internationalen Strafgerichtshof?

Ja. Es geht um Unabhängigkeit.

Sie teilen also die Sorge, dass die USA aus dem plötzlichen Gefühl der Verwundbarkeit heraus in immer stärkerem Maße sich darum bemühen werden, ihre Dominanz zu erhalten. Wie kann Europa darauf reagieren?

Das ist sehr schwierig. Ich unterstelle den Amerikanern keine bösen Motive, im Gegenteil. Sie sind ja tief davon überzeugt, dass sie für das Gute eintreten. Außerdem ist unbestreitbar, dass der transnationale Terrorismus eine Bedrohung des staatlichen Gewaltmonopols und des Zusammenlebens schlechthin darstellt. Aber es ist ein Problem, dass das Bild, das Amerika von sich selbst und von der Welt hat, nicht mit dem Bild übereinstimmt, das die anderen von Amerika haben. Die Aufgabe der Europäer wäre es, den USA auch die Sicht der nichtwestlichen, vor allem der islamischen Welt zu vermitteln.

Haben Sie den Eindruck, dass Europa diese Sicht selbst gut genug kennt?

Besser als die USA. Ich beklage allerdings auch in unserem Land, dass die Fähigkeit zum Verständnis einer anderen Weltsicht sehr unterentwickelt ist.

Halten Sie die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen für das beherrschende Thema der nächsten Jahre?

Davon bin ich überzeugt. Aber mit einer anderen Fragestellung als früher. Der Gegenstand der transatlantischen Debatte ist heute das Verhältnis des Westens zur nichtwestlichen Welt. Bei aller Macht, die der Westen noch immer hat, muss man doch zugleich sehen, dass die anderen immer mehr und auch immer mächtiger werden. Ich behaupte, dass der 11. September nur der radikalste Ausdruck ist für die Auflehnung gegen die westliche, vor allen Dingen von den USA verkörperte Dominanz.

Gibt es heute noch eine Übereinstimmung der Interessen zwischen den USA und Europa?

Grundsätzlich ja. Wir haben dieselben Vorstellungen vom Menschen und der Natur des menschlichen Zusammenlebens. Auf diesem starken Fundament fußt das gemeinsame Interesse, unsere Lebensform erhalten und weiterentwickeln zu können. Wenn man ehrlich ist, muss man auch sagen, dass die Ausbreitung dieser Lebensform in unserem Interesse liegt. Deshalb ist aber auch der Widerstand gegen die westliche Dominanz verständlich. Damit ist ja etwas verbunden, was Entwurzelung für die nichtwestliche Welt bedeutet. Das Problem ist, dass die Antworten auf die Frage, wie wir unsere Interessen vertreten sollen, in den USA und in Europa immer weiter auseinanderklaffen.

Hat die Nato unter diesen Bedingungen aus Ihrer Sicht noch eine Zukunft, oder ist sie nur eine vertraute Bezeichnung für ein längst nicht mehr genau definierbares Instrument?

Im Augenblick ist sie eher Letzteres, aber ich bin leidenschaftlich dafür, dass sie mehr wird. Der politische Charakter der Nato muss verstärkt werden, und die Europäer müssen politisch wie militärisch mehr auf die Waagschale bringen. Um so stark zu werden, dass sie von Amerika gehört werden müssen.

Ist das angesichts des immensen Rüstungsvorsprungs der USA nicht naiv?

Ich sage ja nicht, daß Europa so werden soll wie die USA. Das ist weder möglich noch wünschenswert. Europa muss nicht gleichartig, sondern gleichwertig werden. Die erste Voraussetzung dafür ist, mit einer Stimme zu reden. Wie immer man den Streit um den Internationalen Gerichtshof bewertet: Bislang ist der Vorgang ein Erfolg Europas, weil es zusammengehalten hat. Sonst wäre die Sache längst negativ entschieden.

Aber es besteht doch ein Unterschied zwischen Diplomatie und der Forderung nach Verrechtlichung internationaler Beziehungen auf der einen und Militärpolitik auf der anderen Seite. Erfüllt Sie die wachsende Bedeutung des Militärs als Instrument der Außenpolitik nicht mit Sorge?

„Die Regierung Israels fördert mit ihren Methoden objektiv den Terrorismus“

Auf dem Balkan ist es uns gelungen, mit Hilfe des Einsatzes militärischer Mittel das Schlimmste zu verhindern, und wir haben eine Chance, das dauerhaft zu sichern. Deswegen ist der Einsatz militärischer Mittel legitim. Es war ein Erfolg – mit vielen Mängeln behaftet, aber ein Erfolg. Das militärische Mittel ist ein unerlässliches Element der Sanktion gegen den Bruch einer Rechtsordnung, die zu entwickeln das zentrale Ziel sein muss. Auch das Ziel der amerikanischen Führungsmacht. Deshalb muss sie aber ebenfalls bereit sein, sich diesem Recht zu unterwerfen.

Meinen Sie, dass im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus die Empfindlichkeiten der arabischen Welt vom Westen ausreichend berücksichtigt werden?

Nein, natürlich nicht. Wir haben nicht hinreichend verstanden, in welcher dramatischen Lage sich diese Gesellschaften befinden. Sie müssen alle unter den Bedingungen einer dramatischen Bevölkerungsexplosion zwei Menschheitsrevolutionen gleichzeitig bewältigen: die industrielle Revolution und das so genannte Informationszeitalter. Das hat ja nicht nur ökonomische Folgen. Nicht einmal wir haben die Folgen der Industrialisierung schon vollständig verarbeitet, und uns wurde der Prozess wenigstens nicht von außen aufgezwungen.

Vor diesem Hintergrund gefragt: Wie sollte sich Deutschland im Falle eines US-Angriffs auf den Irak verhalten?

Es kommt nicht auf Deutschland an, sondern auf ein einiges Europa. Bis jetzt sind alle dagegen, auch die Briten. Aber wir dürfen den Amerikanern nicht nur sagen, was wir nicht wollen – wir müssen auch sagen, was wir wollen.

Und was wollen wir?

Die Antworten lauten, wieder einmal: Abschreckung, Eindämmung und Einbindung. Die USA meinen, das reiche nicht, weil Saddam Hussein ein Verrückter sei. Aber der handelt ja nur aus unserer Sicht verrückt. Innerhalb seines Systems handelt er durchaus rational, sonst wäre er nicht mehr an der Macht. Und im zweiten Golfkrieg hat die Abschreckung gegenüber Saddam durchaus funktioniert. Aber Europa muss auch gegenüber den Arabern sagen, was es sich vorstellt.

Was stellt es sich denn vor?

Die Araber fordern ja unisono erst einmal eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Eine solche Lösung würde auch Saddam den Boden entziehen für seine Sympathiewerbung bei den arabischen Massen. Es ist sehr bedauerlich, dass der saudische Friedensplan derzeit in der Diskussion so vollständig in den Hintergrund gerückt ist. Man muss sehen, dass die israelische Regierung mit ihren Methoden objektiv den Terrorismus fördert, ebenso wie das die Russen in Tschetschenien tun. Man wird nicht umhin können, legitimen Widerstand – auch mit gewaltsamen Mitteln – gegen illegitime Herrschaft von illegitimem Terrorismus genau abzugrenzen. Gerade im Nahen Osten.

Wie bewerten Sie die Außenpolitik der rot-grünen Regierung?

Was ist eigentlich anders geworden? Ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe mich früher furchtbar geärgert über die Angriffe auf unsere Menschenrechtspolitik, und zwar weil sie unterstellten, wir hätten kein Herz im Leib. Gleichzeitig habe ich aber gehofft, dass denen vielleicht mehr einfällt. Das ist nicht der Fall. Joschka Fischer ist geradezu zum Hüter der deutschen Orthodoxie geworden. Er hat in den USA gesagt, wir hätten Amerika nicht zu kritisieren. Was heißt das denn? Eine solche Haltung ist weder nötig noch akzeptabel. Die deutsche Außenpolitik muss innovativer werden.