Durchzug im Kopfkino

Poesie als Film? Das erste Poetryfilm Festival in der literaturWERKstatt berlin suchte nach unabgeschlossenen Bildern. 335 Filme aus 16 Ländern wollten gesehen werden

Keine Untertitel. Ganz ohne Übersetzung muss der Zuschauer in Philipp Schapperts Film „Unsagbar“ auskommen. Auf der Leinwand erzählt eine junge Frau mit den raschen Gesten der Gehörlosen eine Geschichte. Manchmal sieht es aus, als würde sie von vergossenen Tränen berichten, dann scheint sie zornig zu werden – vielleicht sind es gar nicht ihre Gefühle, von denen sie erzählt, sondern die eines anderen. Mit „Unsagbar“ gewann Schappert vergangenen Freitag den dritten Preis beim ersten weltweiten Poetryfilm Festival.

Der Titel „Unsagbar“ deutet es schon an: Können Gedichte überhaupt verfilmt werden, wie es der Anspruch des Poetryfilms ist? Wenn doch das eigentliche Wesen dieser Gedichte „unsagbar“ und ihre Bedeutung womöglich für jeden Leser eine andere ist? Was geschieht, wenn das abstrakte Kopfkino, das in jedem Leser eines Gedichts abläuft, in sehr konkrete Bilder auf einer Leinwand umgesetzt wird?

Diese Fragen wollte die literaturWERKstatt berlin mit der Ausrichtung des ersten Poetryfilm Festivals in Berlin aufwerfen: Vom 2. bis zum 5. Juli wurden in der Kulturbrauerei 335 Filme aus 16 Ländern gezeigt. 33 davon waren Wettbewerbsbeiträge, aus denen eine internationale Jury die besten drei Poetryfilme ermittelte. An zwei Vormittagen diskutierte außerdem ein Kolloquium ästhetische Aspekte des neuen Genres.

Die Musikclips, die Anfang der Achtzigerjahre aufkamen, öffneten den Weg für neue Text-Bild-Kombinationen. Poetryfilme, erklärte der Leiter der literatur-WERKstatt berlin, Thomas Wohlfahrt, lassen beim Zusammentreffen eines Gedichts mit Filmszenen oder Animationen eine Spannung erwachsen, aus der heraus etwas Drittes jenseits von Bild und Text entstehe. Es reiche nicht, nur die schon im Gedicht selbst bestehende Metaphorik zu verdoppeln: „Die Bild- und Klangelemente eines Films müssen das Gedicht zum Leuchten bringen“, so Bob Holman, US-amerikanischer Mitbegründer der Poetryfilm-Bewegung.

In der Diskussion warnte der Dichter Gerhard Rühm, gewaschen mit allen Wassern poetischer Vermittlung, davor, Lyrik „beliebig mit Bildern anzureichern und mit einer Musiksauce zu übergießen“: Das Produkt könne in diesem Fall nur tautologisch sein. Wann immer es allerdings gelinge, ein Gedicht als einen unabgeschlossenen Prozess zu lesen und diese Unabgeschlossenheit filmisch sichtbar zu machen, spräche das neue Genre Poetryfilm für sich.

Wenn Philipp Schappert in seinem Film dem Unsagbaren einen prominenten Platz einräumt, dann trägt er genau dieser Forderung nach Unabgeschlossenheit Rechnung: Jeder, der „Unsagbar“ sieht, sieht seinen eigenen unfertigen, veränderlichen Film über das, was die Poesie ausmacht – über das, was unsagbar ist.

Alle ausgezeichneten Arbeiten handeln daher auch von Verständigung. „Global Positioning System“ heißt der zweitplatzierte Film von George Drivas und Maria Antelman, der in klaren, rasch aufeinander folgenden Standbildern ebenso klare und knappe SMS an jemanden verschickt, der eigentlich wissen sollte, warum. Auch in dem Film, der schließlich mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde, erreichen Nachrichten, gedachte und geschriebene, ihre Empfänger: „15th of February“ von Tim Webb verknüpft Filmszenen mit Animationen und legt die Stimme des Dichters und seines Textes darüber. Aus einem Symbol entsteht umgehend ein neues: Briefmarken, Postkästen, rote Herzen und Zigaretten stehen zugleich für sich allein und für die Liebesgeschichte dahinter.

Bob Holman hat im Laufe des Festivals einmal gefordert, angesichts der unübersehbaren Menge an Informationen, die uns ständig erreichten, sollten ruhig einige davon Poesie sein. Filme wie der von Tim Webb bestätigen ihn. ANNE KRAUME