Bildhauerin mit Kamera

Wo andere Sätze bilden, untersuchte sie die Satzteile: Die NGBK erinnert an das unvollendete Werk der Schweizerin Hannah Villiger. Das Bild des Körpers entzog sie gesellschaftlicher Vereinnahmung

von BRIGITTE WERNEBURG

Das Bild, ein Selbstporträt, das auf Plakaten und Einladungskarten für die Ausstellung „Hannah Villiger“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst wirbt, steht für einen künstlerischen Wendepunkt. Es zeigt das Gesicht der Künstlerin – allerdings nur zur Hälfte: die Augen, die dichten, deutlichen Brauen und die von ihren Haaren umspielte Stirn. Der Rest ist von einer spiegelnden Fläche verdeckt, in der sich das Motiv wiederholt und bricht. Das Foto, das Stirn und Augen betont, dafür aber den Mund weglässt, kann als Selbstporträt gelesen werden, in dem die Autorin den intellektuellen, konzeptuellen Zugriff zeigt, mit dem sie der Welt begegnet. Von Seiten der Arbeitsgruppe Fotografie und dem Schweizer Künstler Eric Hattan, die die Ausstellung eingerichtet haben, kann das Foto mit seiner signifikanten Leerstelle auch auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Denn die Ausstellung handelt auch von einem unvollendeten Werk. 1997 starb Hannah Villiger mit nur 46 Jahren an Herzversagen.

Im Mittelpunkt von Villigers Oeuvre steht ihr Körper. Als ihr zentrales künstlerisches Material wie Motiv entdeckt sie ihn, als sie 1980 an offener Tuberkulose erkrankt und einen Monat lang unter Quarantäne steht. Genau so richtig ist es aber zu sagen, dass sie in dieser Zeit ihr eigentliches Arbeitsinstrument entdeckt, die Polaroidkamera. Parallel zur bildhauerischen Arbeit hatte die damals 29-jährige Künstlerin zwar schon mit der Fotokamera gearbeitet. Doch erst im Krankenzimmer, das sie nicht verlassen darf, vollzieht sie die grundlegende Umorientierung – weg von der Skulptur, hin zum Foto, genauer, hin zur Sofortbildfotografie, für die es den Gang ins Fotolabor nicht braucht. Hannah Villiger, eingesperrt in ihr Spitalzimmer – eine Extremform der Ateliersituation, könnte man sagen –, beginnt, ihren eigenen Körper zu fotografieren, mal aus unmittelbarer Nähe, mal auf Armlänge entfernt.

In dieser intimen Distanz entsteht auch das Selbstporträt mit dem doppelsinnigen Titel „Work“. Bildhauerische Arbeit – denn als Bildhauerin bezeichnet sie sich zeitlebens – heißt nun also, den Körper in all seinen denkbaren Haltungen aus allen nur möglichen Perspektiven festzuhalten. In Bruchstücken gewissermaßen, den Fragmenten eben, die dem Focus der Kamera zugänglich sind, fotografiert Hannah Villiger ihre Füße, Hände, Arme, Achselhöhlen, Brüste, Ohren, ihren Halsansatz, die Kniekehlen, den Mund, die Nase, die Haut und die Haare. Tausende von Polaroids entstehen, unter denen Villiger dann minutiös einzelne Bilder auswählt, die sie alleine oder auch zu Blöcken geordnet präsentierte. Dafür arbeitet sie, wie man jetzt in der NGBK sieht, sehr früh mit extrem vergrößerten Abzügen auf Aluminium, in den Maßen 125 x 123 cm.

Doch weder der große Abzug noch die fotografische Entdeckung des eigenen Körpers bringen Hannah Villiger in einen direkten, unkomplizierten Zusammenhang mit künstlerischen Strömungen, etwa den Becher-Schülern, die zeitgleich mit dem Großabzug zu arbeiten beginnen; oder der feministisch engagierten Körperkunst der Foto-Performance, angefangen bei Marina Abramovic oder Valie Export bis hin zu den Inszenierungen von Cindy Sherman. Hannah Villigers Weg, ihren Körper zum Projekt ihrer künstlerischen Arbeit zu machen, ist vollkommen eigenständig.

Wo andere Sätze bilden, untersucht sie die Satzteile, die Grundlagen. Daher ist die eigene biografische Geschichte in ihren Bildern ebenso wenig zu finden wie die gesellschaftliche Vereinnahmung des Individuums und seines – besonders weiblichen – Körpers. Über ihre deutlich formale, gestisch expressiv erweiterte Herangehensweise entzieht Hannah Villiger dem kunsthistorisch und medial geprägten Machtgefälle zwischen Betracher und weiblichem Bildobjekt die Grundlage. Das Ergebnis sind einprägsame Bilder und Tableaus von hoher ikonischer Energie, nicht zuletzt deshalb, weil die Bildhauerin Hannah Villiger ihren Körper im Detail so provokativ als ihren Leib kenntlich macht.

Bis 4.8., Oranienstraße 25, täglich 12–18.30 Uhr, Katalog 49,90 Euro