Die Philosophie des Schlangestehens

Es gibt noch Großereignisse, die funktionieren: Zum ersten Berlin-Gastspiel der Soul-Erlöserin Erykah Badu pilgerten Tausende auf die Museumsinsel

„Berlin ist pleite“, steht auf der Rückansicht des T-Shirts, das ein Junge beim Konzert durch die Menge spazieren trägt. Und tatsächlich hat sich die Finanzkrise, die öffentliche wie die private, auch auf der Museumsinsel schon bemerkbar gemacht. Dort wetteifern in diesem Sommer gleich zwei konkurrierende Konzertagenturen um die Gunst des Publikums und sind dabei offenbar willens, sich gegenseitig in den Ruin zu treiben. Ihr prominent besetztes Festivalprogramm ist zwar beeindruckend, die Kartenpreise allerdings auch: 30 Euro im Schnitt, das mag sich in Zeiten knapper Kassen kaum noch einer leisten. Entsprechend mager besucht waren denn auch einige der Gastspiele vor Berlins unbestritten schönster Outdoor-Kulisse, dem Vorhof der alten Nationalgalerie.

Ganz anders allerdings am Montagabend, beim ersten Auftritt der neuen Soul-Hohepriesterin Erykah Badu in Berlin. Das lag nicht nur am königlichen Wetter, das zum Open-Air-Ausflug förmlich einlud – wenn schon nicht für teures Geld, so doch zumindest zum Gratislauschen und Plauschen auf der Wiese vor dem Museumsgelände, wo sich noch einmal fast so viele Menschen versammelt hatten wie jenseits der Kolonnaden, zusammen mehrere tausend. Das lag auch daran, dass sich Erykah Badu längst als eine der letzten Konsensfiguren der gegenwärtigen Musik entpuppt hat.

Nun hatte sich Frau Badu erstmals in Berlin angekündigt, und fast alle waren sie gekommen: Die Ethno-Fans, die Musik am liebsten naturbelassen mögen, sowie die Club-Hipster, die sonst eher Elektronisches bevorzugen; ein paar ältere Semester, aber auch auffällig viele junge Mädchen. Das sorgte für interessant zusammengewürfelte Menschenlandschaften, die zu betrachten sich als kurzweilige Ergänzung zum Geschehen auf der Bühne erwies. Dort dröhnte zunächst die Band von Bilal, dem Soul-Eleven aus Philadelphia, der zum Dunstkreis des „Soul Aquarinas“-Kollektivs um Erykah Badu gehört und der sich die inneren Dämonen aus dem durchtrainierten Körper kreischte: Ein guter Vorgeschmack auf das kommende Zeremoniell.

Schon da hatten sich vor den Bierständen lange Schlangen formiert, deren Fortkommen sich als Sinnbild für jeden Konzertbesuch lesen ließ: Während die einen sich geduldig weit entfernt vom Kiosk einreihten, stellten sich andere ganz einfach an dessen andere Ecken und bekamen ihr Bier sofort. So ähnlich verhält es sich ja mit dem Freizeitverhalten insgesamt: Ob und wann man zu seinem Vergnügen kommt, hängt schließlich ganz entscheidend davon ab, wie man sich dabei anstellt. Richtig gemacht hatten es jedenfalls jene Zaungäste, die sich am gegenüberliegenden Ufer auf ein Baugerüst geschwungen hatten und, von der Museumsinsel aus betrachtet, ein eindrucksvolles Bild abgaben. Irgendetwas falsch gemacht hatte dagegen jenes Mädchen, das neben der Warteschlange am Bierstand in Ohnmacht fiel und sich kurz darauf übergab: Sie wird diesen Abend wohl nicht mehr in so guter Erinnerung behalten haben.

Alle anderen dagegen schon, denn Erykah Badu zeigte sich von erwarteter Begnadetheit. Majestätisch schritt sie auf die Bühne, mit extravagantem Hut und aufgeplusterter Felljacke jener ausgestorbenen Vogelart, die man Dodos nennt, nicht unähnlich. Schicht für Schicht schälte sie sich aus diesem Kostüm, wobei der langsame Wechsel der Garderobe die sparsame Dramaturgie des Konzerts strukturierte. Am Ende stand sie im schlichten schwarzen Kleid da, von ihrem knielang geflochtenen Haar wie von einen Schal umschmiegt, als wäre sie frisch einem Fotoalbum alter Jazz-Größen entstiegen.

Ihre spindeldürren Arme allerdings ließen befürchten, dass sie mit Billie Holiday mehr als nur die Bühnenaura gemein hat. Diese streckte sie zu einer Art eurhythmischem Ausdruckstanz und vollführte seltsame Figuren, die man sich selbst nicht zutrauen würde, schon gar nicht auf der Bühne. Doch es bildete die würdige Umrahmung für den satt abgehangenen Old-School-Soul, der die Magie einer vergangenen Zeit reaktivierte.

„We love you“, rief ihr eine Stimme zu, als Erykah Badu gerade einmal mehr ihre spirituelle Botschaft verkündet hatte. Man wunderte sich ein bisschen, was die Faszination dieser doch altmodischen Genre-Adaption auf so viele junge Hörer ausmacht und dachte, es muss gerade die tiefe Ernsthaftigkeit sein, die ihr eigen ist: Da soll noch einer von Spaßgesellschaft reden.

„I don’t take it for granted“, antwortete Erykah Badu auf den aufbrandenden Applaus, und man wollte es ihr sofort glauben. Wie auch die Beichte, dass sie jede Nacht dafür zum Dankgebet niederknie. DANIEL BAX