Der hydraulische Wohlstandsmelder

taz-serie „Berliner Bergwelt“: 66 Meter über Meereshöhe liegt der geheimnisvollste und geschichtsträchtigste Gipfel der Hauptstadt: Eben der Kreuzberg

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Wie jeder Berg hat auch der Kreuzberg Rodelhänge, eine Baumgrenze, eine Schlucht und natürlich ein Geheimnis. Das, gleich einer wundersamen Erscheinung von unsichtbarer Hand gelenkt, mal ist, mal nicht. Wer lange, oder seien es auch nur ein paar Tage, nicht mehr den Weg zum „Vikoriapark“ fand, fragt sich, ob es wohl fließt, das Wasser. Keiner kann sagen, welcher Umstand nun günstig genug ist, damit es wieder die künstlichen Felsen hinunterschäumt. Rauscht es aber aus der Höhe herab, ist diese pralle Gischt die eigentliche Attraktion des Viertels. Von einem geometrieverliebten Planer wurde in der Achse der Großbeerenstraße eine Schlucht kreiert, eine mit Vorbild. Denn der Kreuzberger Wasserfall wurde dem „Hainfalle“ im Riesengebirge nachempfunden. Der Viktoriapark als wildes Nymphenland mit saftigen Büschen und sich windenden Pfaden. Ein Flecken üppiger Natur gegen die sandige Ödnis der Residenzstadt.

In diesen heißen Tagen, leider, entlockt kein noch so hingebungsvoller Bongo-Spieler, keine noch so hechelnde Hundezunge dem Felsen Wasser. Die steinernen Becken stauen nur wannenwarmes Nass, gefärbt im leuchtenden Grün der Algen. „Halt die Waffel!“, raunzt eine dralle Mittfünfzigerin den aufgeregt planschenden Schäferhund an. Einige Felswindungen weiter unten sitzen zwei junge türkische Männer und verzehren ihre mitgebrachten Würstchen. So trübe und still wie die Pfütze vor ihnen sind ihre Gesichter. Einige Staustufen weiter balanciert ein kleiner blasser Junge gelangweilt durchs kniehohe Wasser. Sommer, Ferien, und kein Abenteuer in Sicht.

Himmelwärts, wo einst Reben den Berlinern sauren Wein bescherten, feindliche Truppen die Stadt beschossen und Reste einer Zitadelle standen, legte 1818 König Friedrich Wilhelm III. in Gegenwart des Zaren Alexander den Grundstein zu einem Nationaldenkmal. Stolz der Nation, die damals noch gar keine war, gedenkt die Spitzsäule der Siege über die napoleonischen Heere. Weithin sichtbar sollte sie sein. Der große Schinkel entwarf das Ensemble aus Stein und Gusseisen. Die nicht minder bekannten Skulpteure Rauch und Tieck schufen zum preußischen Eisernen Kreuz einen klassizistischen Figurenreigen. Die Produktion soll die Eisengießer vor ungeheure technische Herausforderungen gestellt haben. Die Figuren aber, Symbole der zwölf Schlachten, sind ob ihrer Feinheit einzigartig in Berlin.

Großgörschen, Bautzen, Großbeeren, Dennewitz, Dresden, Nollendorf, Katzbach, Warthenburg, Leipzig, Paris, Ligny und endlich, 1815, Belle-Alliance. Danach ging’s für Napoleon, one way, nach St. Helena. Namen, die nur die Belesenen unter den vielen Gipfelbesuchern inspirieren. Vor „Paris“ sitzt auf den mittagheißen Stufen ein Döner kauender Junge. Sein Blick schweift Richtung Tempelhofer Flughafen, wohin die Nationalsozialisten am liebsten eine Sichtschneise hätten schlagen lassen. „Ich kann jetzt nicht mit dir zusammenziehen, verstehste, das ist mir too much“, sagt vor „Belle-Alliance“ eine junge Frau mit Kelten-Tatoo zu einem Mann. Das Denkmal war den Deutschen schon 1878 nicht mehr hoch genug. Die Häusermassen der heranwuchernden Großstadt schienen den hoch gebauten Ruhm in den banalen Schmutz der Zivilisation zu drücken. Also wurden seine 20.000 Kilo mit hydraulischen Pressen gehoben und um insgesamt acht Meter erhöht. Noch dazu drehte man das Bauwerk um 21 Grad, damit es mit der Großbeerenstraße eine harmonische Achse ergebe.

Wer den Gipfel erklimmt, dessen Blick wird hinabgesogen, dorthin, wo er die Großbeerenstraße flüchtig ertastet, die kleinen vorbeirasenden Autos verlachend, unweigerlich hängen bleibend an der Silhouette des neuen Berlin. Endlos murmeln die Dialoge der Beobachter über die wahren Namen der Hochhäuser. Schnell muss alles benannt und verortet werden, unerträglich der Blick in ein namenloses Häusermeer. Berlin, meine Stadt.

Gut, dass es da oben außer Sitzen, Gucken, Saufen und Bestimmen ab und zu auch noch was anderes zu tun geben wird: Führungen durch das Sockelgewölbe. Wir wollen die Eingeweide der Metropole nämlich alle mal sehen. Glück nur, dass sich die Denkmalschützer weigerten, den Berg dem Chichi zu überlassen. Denn als Bezirksbürgermeister wollte Peter Strieder den Sockel an ein Feinschmeckerlokal verpachten.

Nein, der Kreuzberg ist ein plebejischer Berg. Ein echter Volxsberg. Hier ist das Gassi-Reich der Frauchen und Herrchen. Hier konzertieren nach Herzenslust Gitarren- und Bongospieler, schlafen Obdach- und Orientierungslose ihren Rausch auf den schattigen Bänken aus. Hier darf, nach Protesten aufgebrachter Eltern, der krebskranke Waschbär im Tierschaugehege sein Gnadenbrot futtern und die Grassboarder in der Natur-Traverse ihre Jumps üben. Vertrieben wurden nur die eiligen Schwulen. Ihre „Klappe“ in der öffentlichen Toilette an der Ecke des Parks machte das Bezirksamt dicht. Doch wer wen finden möchte, braucht sich nur den vielen Einsamen zu nähern. Oder ruft an. „6 27 55 43, wer Liebe sucht oder eher Sex“ steht ins Holz einer Parkbank geritzt.

Das Geheimnis des Berges ist übrigens ein schnödes. Der Wasserfall bleibt so lange trocken, bis wieder Geld in die Bezirkskasse fließt. Brunnen und Kasse als kommunizierende Röhren. Der Wasserfall ein hydraulischer Wohlstandsmelder. Die letzten siebeneinhalb Wochen, in denen das Wasser rauschte, haben 18.000 Euro hinweggespült. Nicht der Pumpenstrom sei teuer, sondern das Wasser, erklärt das Bezirksamt. Helfen kann nur ein Sponsor. Einer, des es liebt, sein Geld zu Gischt zu machen. Doch welcher Kapitalist würde schon dem aufmüpfigsten Berliner Bezirksvolk das sommerliche Wohnzimmer verschönern?