mauljucken im plattenladen von FRANK SCHÄFER
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Schon vor einer Weile hatte in unserer Stadt ein Secondhand-Plattengeschäft seine altmodische Klimpertür geöffnet, und wenn gar nichts mehr ging, kam ich hierher und atmete mal wieder richtig durch. Dieser Geruch! Hier hatte sich das Gute, Wahre und Schöne in olfaktorischer Reinheit erhalten. Vinyl und ausschließlich Vinyl.

Als ich wieder mal an einem der abgewetzten Holzständer stand und durch Plastikhüllen geschützte, immer schön quadratische Kunstwerke durch meine Finger gleiten ließ, stellte sich jemand an die Blues-Abteilung hinter mir und sog geräuschvoll die Luft ein, wie ein Süchtiger. Ich war zu sehr mit der „Hard & Heavy“-Rubrik beschäftigt, sonst hätte ich eigentlich etwas merken müssen, aber er fiel mir erst auf, als nach einem kleinen Jauchzer des Glücks die mir sehr bekannte Stimme ein „Scheiß die Wand an, ‚Texas Flood‘!“ durch den Laden posaunte. Pünschel!

Der Besitzer, den alle nur „Grappa“ nannten, offenbar wegen seines italienischen Teints, fühlte sich geschmeichelt und lachte. „Watt denn? Die haste noch nicht, und ich dachte immer, Stevie Ray Vaughan wär so ’ne Art Muttermilch für dich gewesen?“ Pünschel reagierte vergrätzt, wie jemand, den man ertappt hat. „Mauljucken?“, fragte er. Und als er seinen Kopf in Richtung Kassentresen drehte, wandte auch ich mich um. Unsere Blicke trafen sich, und er brachte mich gleich ins Spiel. „Sag dem Freak da hinten mal, dass man sich solche vorlauten Sprüche vielleicht als Stammkunde leisten kann“, aber dann überlegte er es sich doch anders und sprach Grappa direkt an, „als Ladenbesitzer hast du das Ding schneller gegen die Wand gefahren, als du bis drei zählen kannst, nur mal angenommen, du kannst so weit zählen …“

„Also, ich soll dir sagen …“, begann ich, aber Grappa winkte zweimal kurz mit der Rechten und nickte dazu im Takt. Er hatte augenscheinlich alles verstanden. Und ging dann auch sogleich in die Offensive, mit dem fast schon resignierenden Grinsen des Weisen. „Mensch, Pünschel, wo willst du denn sonst hingehen?“ Das saß! „Scheiß-Monopolist“, grummelte er denn auch sogleich. Aber Grappa lenkte ein. „Komm schon, Alter, lass uns nicht länger streiten … Für neun Euro ist die ‚Texas Flood‘ deine“, sagte er widerlich schmatzend. „Wieso?“ Pünschel hob die Platte hoch. „Hier steht doch acht drauf.“ Jetzt ahnte ich, was die Schmatzerei sollte. „Tjaaaa, das war vorhin“, flötete die italienische Schnapsdrossel so süßlich, als sei sie auf Likör umgestiegen.

Als wir draußen waren und beide ostentativ nichts gekauft hatten, heulte irgendwo ein Hund. Eine Gänsehaut kroch mir langsam, aber stetig den Rücken hinunter. „Wölfe!“ sagte Pünschel. Und mir war nicht ganz klar, warum ich darauf zustimmend nickte. Aber er sah ja gar nicht hin, sondern starrte wie verhext auf die angebissene Golddublone am Himmel: „Übrigens, kennste den schon? Martin Luther kommt nach Haus. Fragt seine Liebste: ‚Na, Martin, wie war dein Tag?‘ – ‚Ach‘, sagt Luther, ‚… außer Thesen nix gewesen.‘“ – „Nich’ schlecht“, sagte ich. „Beileibe nicht schlecht!“ – „Findest du?“ – „Ich wollte nur nett sein.“