Friss, Kind! Oder grunz …!

Solange die Freunde noch normal sind, ist es egal, dass sie Nachwuchs haben

Eines Morgens entdecken sie, dass das Kind nichts weiter ist als ein sprechender Mülleimer

„Kinder seien von Geburt an böse, schlecht und verdorben, eitel, wilde Tiere und Säue, die zu nichts nutze sind, denn zu fressen und zu saufen.“ (Martin Luther, 1520)

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind und eines Morgens entdecken Sie, dass es nichts weiter ist als ein sprechender Mülleimer. Ich habe keine Kinder, aber als ich neulich bei Freunden eingeladen war, habe ich so ein Kind erlebt: Kaum saßen wir am Mittagstisch, klemmte es sich die Schüssel mit dem Essen unter seinen Arm, schaufelte den Inhalt mit enormem Tempo in sich hinein und ließ die Schüssel erst wieder los, als sie leer war. Wir Erwachsenen warteten eine Weile, und als langsam klar war, dass wir leer ausgehen würden, verzogen wir uns in die Küche, wo der Vater des Kindes noch etwas Brot und alten Käse versteckt hatte. Das aßen wir, bevor es das Kind bemerken konnte.

Glücklicherweise kann ich mit meinen Freunden über solch ein Essverhalten offen reden. Sie reagieren sogar mit Humor. Als ich das Stichwort vom „sprechenden Mülleimer“ gab, meinte mein Freund nur trocken: „Woher weißt du denn, dass er sprechen kann?“ Im selben Moment verdrückte das Kind gerade unter einigem Grunzen eine extra große Tafel Schokolade. „Ich glaube, ich kann das als sprechen noch gelten lassen“, sagte ich.

Seit in meinem Freundeskreis immer mehr Kinder auftauchen, habe ich mir angewöhnt, meine Freunde in zwei Gruppen einzuteilen. Zu der einen gehören Leute wie mein Freund oben. Sie haben es geschafft, sich den hormonellen Anwandlungen eines Vater- oder Mutterdaseins zu entziehen, sind zwar fürsorgliche Eltern, dabei aber nicht übermäßig kindfixiert und haben sich ansonsten die Eigenschaften, für die ich sie schätze und achte, erhalten können. Das ist erfreulich, denn wie wir alle wissen, gilt: Die Kinder sind mir sehr egal. Hauptsache, die Freunde sind noch normal.

Die anderen ändern sich mit dem ersten Kind vollkommen. Als gäbe es außerhalb des Eltern-Kosmos keine Welt mehr, kreisen sie nur noch um den kleinen Planeten Kind. Solche Freunde sollte man sofort vergessen. Man hat seine Lebenszeit halt nicht gestohlen, sondern bekommt sie nur geliehen – da muss man sie nicht mit langweiligen Zeitgenossen verschwenden. Deren Kinder entwickeln sich übrigens meist nicht zu sprechenden Mülleimern, dazu müssen sie zuviel Leinsamen essen; dafür machen sie aber auch erst mit neun das Seepferdchen, werden bald Legastheniker und enden schließlich als Marilyn Manson, was mal wieder beweist, dass es einen Gott gibt und dass der allzeit Gerechtigkeit walten lässt.

Was man dabei leicht vergisst, ist, dass man selbst mal Kind war und Eltern nötig hatte, die einen großzogen. Meine Eltern haben sich alle Mühe mit mir gegeben, so sinnlos und albern ihnen ihre Erziehungsaufgabe auch vorgekommen sein muss. Dabei haben sie wirklich Großes geleistet: Wenn man heute ein Lexikon aufschlägt und unter dem Begriff „Geduld“ nachschlägt, findet man dort ein Bild von ihnen – wie auch unter den Stichwörtern „Mut“, „Verzweiflung“ und „Vergeblichkeit menschlichen Strebens“.

Gleichzeitig ist es meinen Eltern gelungen, mit ihrer Erziehungsarbeit in die „ewige Liste der menschlichen Herausforderungen“ zu gelangen, wo sie noch vor „IKEA-Möbel zusammensetzen“, „einen Anschluss der Telekom bekommen“ und „einen Film von David Lynch verstehen“ liegen. Na ja, immerhin haben sie es geschafft, dass ich nicht zu fett geworden bin – und sprechen kann ich auch.

„Er hat was gesagt!“, rief mein Freund wenig später. „Und was?“ – „Hunger!“ Ich glaube, ich liebe diesen Mülleimer. Komm her, Kind, hier haste auch noch mein Käsebrot! JAN ULLRICH