Depression und Revolte in der Großstadt

Traurige Brandstifter

Das Leben in der Großstadt wird von ihren Bewohnern in wachsendem Maße als Zumutung begriffen. Verstärkt kommt es zu Übersprungshandlungen. Männer schreien in der U-Bahn. Frauen werfen Gegenstände vom Balkon und gehen nicht mehr ans Telefon. Die Nachbarn gucken Pornofilme. Große Teile der Bevölkerung verlassen ihre Wohnung überhaupt nicht mehr, Kontaktaufnahme gerät zunehmend zum Problem.

Aggression und Trauer entladen sich in privaten Depressionsrevolten. So kam auch Christina B.s Fanal gegen die Modernisierung der Stadt nicht wirklich überraschend. Es war ein schwerer Tag gewesen, überhaupt schlief die 35-jährige Christina B. zu jener Zeit schlecht. Das Baby hatte in der Nacht geschrien, sie war müde. Zur Entspannung trank die gelernte Revolverdreherin Christina B. Dosenbier. Den Kindern ist das doch alles zu viel, dachte sie dabei. Die vielen Baustellen in Berlin, die Rechtschreibreform – zu große Ungerechtigkeiten, gegen die es ein Zeichen geben sollte.

Schon mehrmals hatte Christina B. versucht Alarm zu schlagen, weil die Berliner Kinder längst nicht mehr mitkämen bei allem, was sich veränderte. Einmal hatte sie aus diesem Grund schon eine Gartenlaube angezündet, ein anderes Mal brennende Gegenstände in ein Schaufenster geworfen.

Es mag am überwältigenden Zusammenspiel von Müdigkeit und Trunkenheit gelegen haben, dass die allein erziehende Mutter aus dem gutbürgerlichen Berliner Bezirk Wilmersdorf an diesem Tag zuerst versuchte, ihr Baby in der Badewanne zu ertränken, bevor sie schließlich beschloss, eine Tankstelle zur Explosion zu bringen. In den frühen Abendstunden betrat die junge Frau daraufhin das Gelände einer modernisierten BP-Tankstelle, steuerte über eine Grünfläche auf die Zapfsäule 4 zu, zog die Zapfpistole aus dem Halterung.

„Gott hat uns gerufen, wir müssen alle kommen!“, schrie Christina B. und schnipste an einem Feuerzeug. Ein Kassierer der Tankstelle eilte herbei. Eine Polizeibeamtin sagte später, Christina B. sei bei ihrer Festnahme „äußerst aggressiv“ gewesen. Frau B. sah das Unrecht ihres Verhaltens auch dann noch nicht ein, als sie schon vor Gericht stand. Der Richter hat die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Die Karriere des 40-jährigen Jürgen R. verlief im Gegensatz dazu eher linear – ja geradezu typisch für viele Zuzügler, die seit den 80er-Jahren die Stadt bevölkern. Früher hatte R. in der westdeutschen Provinz eine alternative Gaststätte betrieben. Punkkonzerte fanden dort statt, die lokale Kiffergemeinschaft traf sich. Schon damals war R. mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Bei einer Polizeikontrolle an der holländischen Grenze stellten Beamte in seinem Opel Kadett eine größere Menge Haschisch sicher.

Das Scheitern einer Liebesbeziehung hatte Jürgen R. schließlich in die Großstadt getrieben. Dort befiel ihn die Verzweiflung an den Verhältnissen, regelmäßig besuchte ihn graue Traurigkeit in ausgedehnten Phasen immer wieder. Ein erfolgreicher Bankraub wäre für ihn deswegen auch kein Glück gewesen, das hat R. später vor Gericht zugeben müssen. Das Geld hätte sein Leben nicht wirklich verändert: Seine Mietschulden hätte er bezahlen können, die Schulden bei Freunden. Aber es hätte nicht lange gedauert, bis die Depressionen wieder über ihn gefallen wären. Da war sich Jürgen R. sicher.

Auch das Wochenende vor dem Überfall, sagte Jürgen R., hatte er sich in einem seelischen Loch befunden. Lethargisch war er in seiner Wohnung herumgehangen. Trost brachten weder zwei Flaschen Tequila noch die letzten Reste Kokain und Haschisch. Die Tage waren in einer quälenden Rastlosigkeit verlaufen, geschlafen hatte er kaum. Es war also kein überlegter Plan gewesen, vielmehr eine Kurzschlussreaktion, ausgeführt in großer Unruhe. Irgendwann war er „einfach durchgeknallt“.

Der Bankraub am 6. Februar ging schief. Mit einer kaputten Gaspistole ist R. in eine Sparkassenfiliale in Friedrichshain gestürmt, dem ärmsten Bezirk der Stadt. Dort brüllte er „Überfall!“, rannte dann eilig wieder nach draußen, nachdem die Kassierin ihm 39.050 Mark in seinen Stoffbeutel geschichtet hatte. Ein Sparkassenkunde folgte ihm. Dieser Mann im Kampfanzug, ein 47-jähriger Oberfeldwebel der Bundeswehr, konnte R. schnell überwältigen und der Polizei übergeben. Der Feldwebel bekam wenig später 500 Mark vom Berliner Polizeipräsidenten überreicht. Jürgen R. musste acht Jahre ins Gefängnis. Inzwischen hat er sich außerdem in therapeutische Behandlung begeben. – Sie sind aus ihrem Bezugssystem gekippt, sagen gerichtsmedizinische Gutachter über Menschen wie Christina B. und Jürgen R.

Die Zeiten werden indes nicht besser. Im Bekanntenkreis schwärmt selbst der erfolgreiche Softwareentwickler K. zunehmend von der karthatischen Wirkung eines kollektiv begangenen Verbrechens. Und der Schriftsteller W. hat angekündigt, demnächst mit Komplizen in eine Bank einzusteigen. KIRSTEN KÜPPERS