Nicht verwahrlost

Dorist Foitziks Studie über Jugendkultur und Jugendpolitik 1946 bis 1949 widerlegt die These einer unpolitischen Aufbaugeneration

von REINER SCHOLZ

Tanzschule auf dem Süllberg. Der Tanzlehrer bittet leicht pikiert auf das Parkett: „Meine Damen und Herren, ich gebe jetzt die Tanzfläche frei für einen Boogie-Woogie.“ Wie elektrisiert springen die Jugendlichen auf. Doch nach einem Tanz ist Schluß. „Jetzt wieder alles auf die Plätze zurück. Nun wollen wir uns wieder gepflegter benehmen.“

Diese Szene findet sich in dem jüngst erschienenen Buch Jugend ohne Schwung? Jugendkultur und Jugendpolitik in Hamburg 1945-1949 von Doris Foitzek. Es ist eine Szene aus dem Nachkriegsjahr 1947, als deutsche Tanzlehrer dem Nachwuchs den (durchaus militärischen) Standardtanz beibringen wollen, die jungen Männer und Frauen aber amerikanische „Schütteltänze“ wie Samba, Jive und Boogie-Woggie bevorzugen.

In ihrer Untersuchung hinterfragt die Hamburger Volkskundlerin Doris Foitzik die bislang in der Wissenschaft gängige Vor-stellung „der“ Nachkriegsjugend, die als „still“ und „unpolitisch“ bezeichnet wurde. Der Kölner Soziologe Helmut Schelsky nannte sie eine „skeptische Generation“, die in der Aufbauarbeit aufgehe.

Aber stimmt dieses Bild? Die Autorin hat dreiundzwanzig Hamburger Zeitzeugen der Jahrgänge 1927 bis 1933 befragt. Und diese zeichnen ein Bild, das weitaus differenzierter ist als die offizielle Version einer verwahrlosten Jugend. Die Zeitzeugen beschreiben die unmittelbare Nachkriegszeit zwar als entbehrungs-, aber auch als chancenreich. Natürlich: Es gab wenig zu essen, Steckrüben, Bücklinge und Kartoffeln bildeten den Speiseplan. Es gab nichts zum Heizen, es gab keine Klamotten und kaum Wohnraum.

Doch Doris Foitzik konstatiert in ihrer Lokalstudie zu Recht: „Es drängt sich die Frage auf, ob der Verwahrlosungs-Diskurs nicht umfangreicher war als das Problem selbst.“

Das Buchwird durch viele bislang nicht veröffentlichte Fotos ergänzt und gliedert sich in vier Teile: Lebensbedingungen, offizielle Jugendpolitik, Jugendkultur und Zeitzeugenberichte.

Besonders interessant sind die Abschnitte über die offizielle Jugendpolitik der Stadt Hamburg. Das Jugendamt verstand sich mindestens bis 1950 nicht als Amt „für“ die Jugend, sondern ausschließlich als Kontrollinstanz und Kampfbund gegen abweichendes Verhalten. Personelle sowie ideologische Kontinuitäten von 1920 über 1933 bis nach 1945 lassen sich mühelos auffinden.

Das 1911 gegründete „Mädchenerziehungsheim“ Feuerbergstraße arbeitete zum Beispiel all die Jahre und somit auch nach dem Krieg mit der gleichen Leiterin weiter. Der Jurist Rudolf Sieverts, seit 1934 Professor für Jugendstrafrecht in Hamburg mit Schwerpunkt: „Arbeitsbummler“, beschäftigte sich auch nach dem Krieg mit „arbeitsscheuen Jugendlichen“ und wurde 1961 Rektor der Universität Hamburg.

Wenig überraschend, zeigt die Autorin auch, dass das Angebot der politischen Parteien am Interesse der meisten Jugendlichen meilenweit vorbeiging. Während die führenden Jugendverbände im „linken“ Hamburg, also die sozialdemokratischen „Falken“ und die kommunistische FDJ auf Uniformierung und Politisierung drängten, wollten die jungen Leute nach 1945 in ihrer Freizeit nicht mehr als ihre Freiheit, auch in der Wahl ihrer Interessen.

Die Parteien reagierten mit Unverständnis. Als Jugendliche den amerikanischen Jazzmusiker Bill Coleman begeistert feierten, verglich die Kommunistische Volkszeitung das Publikum mit einer „wilden Elefantenherde“. Nach anfänglichem Zögern wurden Swing-Jugendliche aus den politischen Jugendorganisationen hinausgeworfen.

Dass die Nachkriegsjugendlichen in ihrer übergroßen Mehrheit (95 Prozent) diesen Organisationen nicht beitraten, kann da nicht verwundern. Sie suchten sich andere Angebote. 1946 waren in Hamburg schon 63 Kinos geöffnet, es wurden 22,6 Millionen Karten verkauft. Der Kulturring der Jugend erließ 1946 bei 4000 Mitgliedern einen Aufnahmestopp. Man hatte in einem Jahr bereits 70 Veranstaltungen auf die Beine gestellt mit 37.000 Besuchern. Theater und Bücher, das bestätigen nicht nur die Zeitzeugen, standen als knappe Güter der Sinnstiftung hoch im Kurs. Vor allem das, was die Alliierten boten, kam gut an, Hollywoodfilme, Hemingway, Boogie-Woogie. Sie organisierten unter anderem Boys- und Girls-Klubs mit viel schräger Musik.

Als deutsche Träger die Heime dann übernahmen, da war der Spaß im wortwörtlichen Sinne vorbei. Es wurde nur noch Volkstanz geboten, sogar erwachsenen Jugendlichen war ab sofort das Rauchen untersagt. Schlagartig ließ das Interesse der Jugendlichen nach. Die meisten Jugendlichen wollten sich nicht länger vorschreiben lassen, was gut und richtig sei. Foitzik: „Die Globalisierung der Jugendkultur hatte schon begonnen, der typisch deutsche Weg war nicht mehr gangbar.“

Jugend ohne Schwung? Aus der Sicht der Verantwortlichen war die Jugend der unmittelbaren Nachkriegszeit „unpolitisch“ und litt, bedroht von materieller „Verwahrlosung“ an „Geschmacksverwahrlosung“. Doris Foitzik kommt zu einem anderen Urteil. Das Leben der Jugendlichen sei durchaus facettenreich gewesen, schreibt sie, und habe mehr als Entbehrungen umfasst. Zwar könne vor dem Hintergrund späterer Entwicklungen (Rock‘n‘Roll, Hippie, etc.) von einer „Jugendprotestbewegung“ keine Rede sein, wohl aber seien Ende der Vierziger Jahre bereits die „Anfänge einer nicht institutionell geregelten Jugendkultur zu erkennen“ als Folge eines Individualisierungsprozesses.

Doris Foitzik: Jugend ohne Schwung? Jugendkultur und Jugendpolitik in Hamburg 1945–1949 (Forum Zeitgeschichte Bd. 12). Ergebnisse-Verlag 2002, 280 S., 25 Euro