„Wir konstruieren eine neue DDR“

Die Schriftstellerin Rita Kuczynski erklärte, warum Ostberliner heute PDS wählen. Es geht eher um die Sehnsucht nach Heimat als um die soziale Lage

von ROBIN ALEXANDER

Es ist nicht so, dass die Partei des Demokratischen Sozialismus als solche besonders viel Interesse auslösen würde. Es ist vielmehr der Erfolg der PDS, der immer wieder Fragen aufwirft. Zuletzt bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus im November vergangenen Jahres. Damals haben fast 50 Prozent der Wähler in Ostberlin für die SED-Nachfolgepartei gestimmt. Warum? Mit der Beantwortung dieser Frage hat der Parthas Verlag Rita Kuczynski beauftragt. Die 58-Jährige hätte leicht aus ihrer eigenen Biografie antworten können. Sie hat die DDR sozial und intellektuell durchmessen wie kaum eine andere: als Fließbandarbeiterin und Angestellte der Akademie der Wissenschaften, mit dissidentem Bewusstsein und Innensicht der Nomenklatura als eingeheiratetes Mitglied des Clans um den DDR-Großintellektuellen Jürgen Kuczynski. Aber die Autorin hat – zumindest vordergründig – nicht aus ihren eigenen Erfahrungen geschöpft, sondern Fragen gestellt: In 20 Tischgesprächen mit PDS-Wählern ergründet sie deren Affinität zur ehemaligen Staatspartei.

Ihre Ergebnisse hat Kuczynski in einem schmalen Band veröffentlicht und Dienstagabend im Kulturkaufhaus Dussmann vorgestellt. Selten war in diesen hellen Hallen des organisierten Konsums so viel alte DDR versammelt: Beinahe achtzig Zuhörer in blassen, pastellfarbenen Kleidern und den besten Jahren teilen mit Kuczynski die typisch ostdeutsche konsensorientiere Gesprächsatmosphäre. Selbst der Moderator Manfred Wilke, Mitbegründer des Forschungsverbunds SED-Staat an der FU, sieht an diesem Abend mit dicker Brille und kugelrundem Kopf aus wie eine Mischung aus Karl Eduard von Schnitzler und dem Leipziger Messemännchen.

Kuczynskis Befragte gehören weder zu einem sozialen Zusammenhang noch zur gleichen Generation. Was Model, Ärztin und Fußbodenleger eint, ist ihr Bedürfnis nach Heimat und Herkunft. Eine junge Frau, die zur Zeit der friedlichen Revolution in der vierten Klasse war, bedauert, dass ihr das in der fünften Klasse vergebene rote Pionierhalstuch entging. Kuczynski: „Wir konstruieren eine neue DDR. Dazu nutzen wir unsere Erinnerungen. Wir verwenden nur, was uns gefällt und für unsere Identität nützlich ist.“ Wie wirkungsmächtig diese konstruierte Ostindentität ist, verrät die Sprache: Selbst die kritische Beobachterin sagt unwillkürlich „wir“.

Viel von Kuczynskis Ergebnissen ist nicht neu: Die soziale Situation spielt keine Rolle bei der Entscheidung für die Sozialisten. Es geht um Identität, um die Abgrenzung gegenüber dem Westen, die um die PDS herum organisiert wird. Der Erkenntnisgewinn kommt aus dem Konkreten. Kuczynski berichtet von einem Russen, der Jahrzehnte in der DDR lebte. Dieser gesteht im Interview, dass er sich immer gewundert habe, „wie human die deutschen Regierungen während und nach der Wende mit den alten Kadern umgegangen sind“. Die alte Herrschaftsschicht des SED-Staates hat nach der Wende kaum Verfolgungsdruck erfahren; auch das erklärt den heutigen Erfolg der PDS.

Das Vorgetragene hat durchaus komische Züge: Bei indischen, italienischen oder französischen Speisen – jedes Gespräch fand beim Essen statt – klagen die Interviewten DDR-Errungenschaften ein: die soziale Sicherung, das Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Bundesrepublik nehmen die Befragten als selbstverständlich hin, auch die Einheit: Sie träumen nicht von der DDR, sondern von einer um die Errungenschaften und Utopien der DDR erweiterte BRD.

Manfred Wilke, der SED-Forscher, stellt im Dussmann-Haus die These auf, Kuczynskis Buch illustriere „die Integration in das vereinigte Land im Konflikt“. Findet also über die PDS eine Auseinandersetzung mit der neuen Gesellschaft statt? Nur bedingt: Die Sicherheit des eigenen Milieus aufzugeben, dazu sind die PDS-Wähler kaum bereit. Eine Frage, berichtet Kuczynski, hätten ihr alle gestellt, die sie um ein Interview bat: „Kommen Sie aus dem Osten oder aus dem Westen?“ Kuczynski konnte antworten: Aus dem Osten. Sonst – da ist sie sich sicher – hätte sie keines ihrer Interviews führen können.

Rita Kuczynski: „Die Rache der Ostdeutschen“. Parthas Verlag, 14,50 €