Büffelherde mit Florett

Auf der heutigen 5. Etappe von Soissons nach Rouen will der Sprintkünstler Erik Zabel nicht nur sein grünes Trikot verteidigen, sondern endlich auch den ersten Tagessieg bei dieser Tour de France

von SEBASTIAN MOLL

Erik Zabel gilt nicht gerade als der leutseligste Radprofi, er liebt die Distanz. Doch auf den Champs-Élysées, am Ende der Tour de France 2001, ließ er sich gleich zweimal umarmen. Einmal vom Australier Stuart O’Grady, der ihm bis zum letzten der rund 3.700 Kilometer das grüne Trikot streitig gemacht hatte, dann von Tour-Gewinner Lance Armstrong bei der Siegerehrung.

Es war so etwas wie ein Bruderkuss verwandter Seelen. Denn wie Armstrong ist Zabel ein Besessener, einer, der gewinnen muss. Wenn Zabel nicht gewinnt, hat er schlechte Laune, mault herum, kritisiert seine Mannschaftskameraden. Typisch für einen Sprinter – gute Verlierer sind sie alle nicht.

Dass die Sprinter Exzentriker und Egomanen sind, passt zu ihrem Selbstverständnis als Künstler. Und in der Tat ist die hohe Schule des Sprints eine Kunst, eine fein abgestimmte Mischung aus unbändiger Kraftentfaltung und filigraner Taktik. Wie die Muleta auf den Stier wirkt der rote Teufelslappen, der die letzten tausend Meter anzeigt, auf die Sprinter. Von außen könnte man meinen, eine Büffelherde gehe durch, wenn die Meute mit knapp 70 Stundenkilometern auf die Zielgerade zustampft. Im Inneren des Sturms tobt jedoch ein Kampf, der mehr mit Florettfechten zu tun hat als mit roher Kraft. In einem Sekundenbruchteil muss der Sprinter über Antritt oder Bluff, über Windschatten oder Attacke entscheiden. Zum Überlegen bleibt da keine Zeit, der Instinkt macht den guten Sprinter aus. „Sprinter“, sagt Erik Zabel, „kann man nicht werden. Irgendwann merkt man, dass es einem liegt.“

Doch der Sprint ist nicht nur das listen- und fintenreiche Duell der starken Männer auf der Zielgeraden. Es ist auch die Leistung eines ganzen Teams. Die erste Phase besteht darin, den Sprinter zu beschützen, ihm die Etappe so leicht wie möglich zu machen. Er wird behandelt wie ein rohes Ei, abgeschirmt, bekommt Windschatten gespendet, Verpflegung und Getränke gebracht. Gleichzeitig muss die Mannschaft darauf achten, dass keine Fluchtgruppe zu weit entkommt.

In der zweiten Phase, rund 20 Kilometer vor dem Ziel, muss die Mannschaft bemüht sein, sich möglichst weit vorne im Feld zu platzieren. Wenn es zur Sache geht, soll der Sprinter in einer optimalen Ausgangsposition sein: nach Möglichkeit ganz vorne und in der Nähe seiner Hauptkonkurrenten, damit er diese im Blick hat. In dieser Phase klettert das Tempo im Feld auf rund 50 Stundenkilometer.

Auf den letzten zwei bis drei Kilometern wird es ernst. Jetzt beginnt das Lancieren. Wie eine mehrstufige Rakete zieht das Team das Tempo hoch. In einer vorher vereinbarten Reihenfolge fährt dazu je ein Helfer mit vollem Einsatz vorne im Wind so lange, bis er keine Kraft mehr hat. Die Reihenfolge entspricht der Stärke der Helfer – der Beste unter ihnen, der Apripista, ist zuletzt bei seinem Kapitän. Diese Männer sind selbst ausgezeichnete Sprinter mit einer hohen Endgeschwindigkeit und einem hervorragenden taktischen Gespür. Sie sind begehrt und werden auf dem Markt hoch gehandelt. Dem Apripista kommt die Aufgabe zu, seinen Kapitän optimal zu platzieren und auf die Endgeschwindigkeit von etwa 70 Stundenkilometern zu beschleunigen, das Tempo, dem der Chef auf den letzten Metern, wenn er alleine ist, nur noch ein Quäntchen zuzusetzen hat. Das entscheidende Quäntchen allerdings, das einen großen Sprinter von einem guten Apripista wie Zabels Edelhelfer Gian Matteo Fagnini unterscheidet.

Bei der Tour de France ist es indes nicht mit dem Zielsprint getan. „Das gelbe Trikot zu gewinnen ist einfach“, hat Erik Zabel mal gesagt, „da muss man nur einmal schnell den Berg hinauffahren. Fürs Grüne musst du um jede Häuserecke sprinten.“ Punkte für die Wertung um das grüne Trikot werden auch bei den Zwischensprints auf der Etappe vergeben. Dort, in irgendeinem Ort an der Strecke, wo häufig nicht einmal Zuschauer stehen, bekriegen sich die Sprinter genauso unerbittlich wie vor der Tribüne auf den Champs-Élysées.

Im vergangenen Jahr wurde auf diese Weise sogar der Kampf um Grün entschieden. Erst im letzten Zwischensprint, irgendwo südlich von Paris, übernahm Erik Zabel die Führung, den Sieg an der Place de la Concorde holte sich jedoch der Tscheche Jan Svorada. Ein Sprintsieg in Bordeaux sei in der Szene sowieso viel höher angesehen, behauptete Zabel. Vielleicht würde er das anders sehen, wenn er an der Seine einmal den Reifen vorne gehabt hätte. Am 28. Juli hat er wieder die Gelegenheit dazu. Dazwischen liegen allerdings noch die Pyrenäen und die Alpen, und heute geht es in Rouen erst einmal darum, den mehrfach knapp verpassten Etappensieg einzufahren.