Der Orkanhimmel über Berlin

Bereits für 18 Uhr hatte der Deutsche Wetterdienst für Berlin eine Unwetterwarnung herausgegeben. Kurz nach 20 Uhr kam dann aber ein Orkan mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 152 Stundenkilometern. Eine vorläufige Bilanz der Zerstörungen

zusammengestellt von SABINE AM ORDE
und UWE RADA

Es begann um kurz vor acht am Mittwochabend. Immer schneller schoben sich die dunklen Wolken über den Berliner Himmel, Sturm zog auf. Bereits für 18 Uhr war vom Deutschen Wetterdienst in Potsdam Unwetterwarnung ausgegeben worden. Um 20.17 Uhr verhängte die Feuerwehr den Ausnahmezustand. Bis 23.50 Uhr gingen 2.076 Notrufe ein. Die schreckliche Bilanz des schlimmsten Unwetters seit 30 Jahren in Berlin und Brandenburg: Sieben Tote, 39 Verletzte, davon 23 durch herabstürzende Bäume, und Schäden in Millionenhöhe.

Schon kurz nach 20.30 Uhr waren viele Straßen mit Ästen und Zweigen übersät. Auf vielen Straßen mussten die Autos Schlangenlinien fahren. In der Meineckestraße in Charlottenburg wurden fast alle Straßenbäume umgeknickt. Insgesamt fällte der orkanartige Sturm des Tiefs „Anita“ über 2.500 Bäume.

Auf dem Hof des Sage Clubs in Mitte hat man das Gefühl, in Miami Beach zu sitzen, den herannahenden Tornado im Auge. Dann knickt – wie die Leichtbauten in US-Katastrophenfilmen – die Dekoration für die anstehenden Partys zur Love Parade zusammen. Der ganze Hof wird kräfig durcheinander gewirbelt.

Unweit des Wannsees verwandelt sich der Schlachtensee binnen Minuten von einem ruhigen Gewässer in einen wellentosenden See. Die trotz schwarzer Wolkenfront zahlreichen Badenden flüchten aus dem Wasser. Nur drei Übermütige kreischen weiter vergnügt in der Brandung. Der Rest rennt unter knackenden und brechenden Bäumen hindurch zum S-Bahnhof. Doch dort fährt zunächst kein Zug mehr, weil ein Baum auf die Gleise gestürzt ist.

Bäume auf Gleisen gab es überall in Berlin. Auf dem oberirdischen Streckenabschnitt der U 6 lagen acht Bäume auf dem Gleisbett. Der Zugverkehr wurde ebenso wie auf der Linie 2 zeitweise eingestellt. Betroffen war aber auch die Stadtbahntrasse, vor allem auf Höhe der Kantstraße waren Bäume auf die Gleise gestürzt. Wegen Feuerwehreinsätzen kam es auch im Busverkehr auf zahlreichen Linien zu Verspätungen und Umleitungen.

Im Raum Pankow kam der Tramverkehr zeitweilig völlig zum Erliegen. Durch die notwendige Abschaltung des Fahrstroms waren teilweise auch benachbarte Linien betroffen. Entstörungstrupps der BVG waren die ganze Nacht unterwegs.

Betroffen war auch gestern noch der Regional- und Fernverkehr. Dabei gab es die größten Probleme auf der Strecke zwischen Berlin und Frankfurt (Oder), wo die Oberleitung an mehreren Stellen abgerissen war. Auch der Fernverkehr nach Polen wurde in Mitleidenschaft gezogen. Erst ab heute Mittag werden die Züge voraussichtlich wieder rollen.

Bis gestern konnten Feuerwehr, Polizei und Versicherungen die Schäden noch nicht beziffern. Tatsache ist, dass sie in die Millionen gehen. Im brandenburgischen Brand wurde die Hülle des Prototypen für den Transportballon CL 75 („Aircrane“) des insolventen Luftschiffbauers Cargolifter durch das Unwetter zerstört. Die riesige Montagehalle blieb von dem Unwetter verschont, Menschen wurden nicht verletzt. Die Zerstörungen am Luftschiff fanden ausgerechnet einen Tag vor einer Beratung über die weitere Zukunft von Cargolifter statt.

Nicht nur am Boden, sondern bereits in der Luft geriet ein Flieger der Schweizer Fluggesellschaft „Swiss“ in Schwierigkeiten und musste am Mittwochabend auf dem Flugplatz Werneuchen nordöstlich von Berlin notlanden. Die zweimotorige Propellermaschine konnte Hamburg und andere Flughäfen nicht mehr anfliegen, weil die Flughäfen wegen des Sturms schließen mussten. Bei der Notlandung der Maschine wurde niemand verletzt, allerdings wurde das Fahrwerk durch Gegenstände auf der Rollbahn schwer beschädigt. Der Grund: Die Polizei hatte zum Schutz vor illegalen Autorennen Sandsäcke und Barrieren auf der Landebahn des Flughafens angebracht.

Der Flughafen Tegel blieb von 20.30 bis 21.00 Uhr komplett geschlossen. Vier Maschinen wurden umgeleitet. Um „Staus“ am Himmel abzubauen, durfte der Airport dann mit einer Sondergenehmigung der Luftfahrtbehörde bis 1.00 Uhr nachts geöffnet bleiben. Normalerweise ist zwei Stunden früher Schluss. In Schönefeld konnte ein Flugzeug wegen der Sturmböen erst 20 Minuten später starten. In Tempelhof gab es dagegen keine wetterbedingten Beeinträchtigungen des Flugverkehrs.

Ganz anders sah die Lage am Breitscheidplatz in Charlottenburg aus. Dort sprachen Beobachter sogar von einer „richtigen Windhose“. Sonnenschirme mit schweren Ständern wurden durch die Gegend gewirbelt und schlugen auf dem Beton teilweise Funken, Bäume wurde umgeknickt. Panikartig flüchteten die Menschen ins Europa-Center. Davor durchschlug ein abgerissener Ast elf Scheiben eines Busses der Linie 129. Dabei wurden der Fahrer und einige der Fahrgäste durch Glassplitter leicht verletzt.

Schäden gab es auch am Olympiastadion. Dort, so berichteten gestern Bauarbeiter, sah es aus wie nach dem Einschlag einer Bombe. In Mitleidenschaft gezogen waren auch das Strandbad Wannsee und die Sommerbäder Wilmersdorf und Am Insulaner. In zwei Fällen kippten durch den Sturm Bäume ins Schwimmbecken. Segelboote wurden ins Strandbad Wannsee getrieben. Die Einrichtungen mussten deshalb vorübergehend geschlossen werden.

Nach einer vorläufigen Bilanz knickte der Sturm nicht nur Bäume um, sondern riss auch 170 Bauteile mit sich, die Häuser, Autos, Straßen und Zäune beschädigten. Mehrere Baugerüste brachen zusammen. Der Sturm fegte Ziegel von den Dächern und Blumenkästen von den Balkonen. Schwere Verletzungen erlitt ein 35-jähriger Mann, der in Wilmersdorf unter einer Holzhütte Zuflucht gesucht hat. Er wurde zusammen mit der Hütte vier Meter hoch durch die Luft gewirbelt.

Die Feuerwehr registrierte bis gestern Nachmittag 2.400 Einsätze. Vier Personen waren von Bäumen eingeklemmt worden und mussten befreit werden. Abschnitte der Stadtautobahn wurden durch umgefallene Baumstämme beeinträchtigt. In 80 Prozent der Fälle wurden Bäume und große Äste von den Straßen und Wegen geräumt.

Die Polizei wurde zu mehr als 1.300 Einsätzen gerufen. Unterstützung erhielt die Feuerwehr von der Berliner Stadtreinigung, die mit Kehrmaschinen kleinere Äste und Zweige von Straßen und Wegen entfernte sowie auf Grünflächen einiger Bezirke aushalf.

Angesichts der Schäden an Menschen und Bäumen dürfte der Schaden für die Kultur noch am geringsten ausgefallen sein. Immerhin: Wegen des Unwetters wurde am Mittwochabend das Konzert zum 50-jährigen Bestehen des Berliner Sinfonie-Orchesters abgebrochen. Der Veranstalter bat die Zuschauer, den Platz zu verlassen. Die mehreren tausend Gäste verließen das Gelände nach Augenzeugenberichten „sehr schnell und recht gut organisiert“. Sturmböen am Gendarmenmarkt knickten mehrere Bäume um.

Während sich der Sturm mit bis zu 152 Stundenkilometern am Wannsee am heftigsten austobte, blieb es andernorts vergleichsweise ruhig. In Schöneberg konnte man sogar mit einem Glas Wein auf dem Balkon beobachten, wie das Gewitter über Mitte und Pankow tobte. Am stärksten betroffen war neben Wannsee der Berliner Norden. Weitgehend ruhig war es auch im Südosten.

Nach Meinung des Deutschen Wetterdienstes war das Unwetter das heftigste seit dem 13. November 1972. Auch im Bundesschnitt erreichte der Sturm in Berlin Spitzenwerte. Sehr selten sei zudem, dass ein Orkan „flächendeckend“ über die Stadt fegte. Auch in den eher „ruhigen“ Gebieten gab es Orkanböen mit durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten von 120 Stundenkilometern. Innerhalb von nur einer Stunde sank die Temperatur von 28 auf 18 Grad. Angesichts dessen war die Regenmenge von 27 Litern pro Quadratmeter eher gering.

Nach dem Orkan beginnt nun die Zeit der Schadensmeldungen an die Versicherungen. Sturm- und Hagelschäden an Häusern und Autos sind Experten zufolge über die üblichen Versicherungen abgedeckt. Dies gelte etwa für die Wohngebäude-, Hausrat- und Teilkaskoversicherung, so Stephan Schweda vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Berlin. „Schäden unter Windstärke acht sind allerdings nicht versichert.“