Berichte von einem anderen Stern

Leistungsdruck oder Laisser-faire? Über die Lernkultur sind die Parteien tief gespalten. Ein deutsch-finnisches Beispiel zeigt: Reform ist trotzdem möglich

aus Helsinki und BerlinCHRISTIAN FÜLLER

Es war so etwas wie eine pädagogische Sternstunde. Lehrer und Schüler hatten sich in der Turnhalle versammelt. Hoher Besuch saß da und wollte wissen: Was ist in dieser Schule eigentlich anders? Und dann sprudelte es förmlich aus der Schulgemeinschaft heraus: Wir lernen anders!

Lehrerin Anette Ebinger schwärmt, dass an ihrem Gymnasium eine ganz andere Lernkultur herrsche. „Ich kann hier vieles, was ich unterrichte, eigenständig bestimmen“, erzählt die Pädagogin. Auch die Schüler sind angetan. „Die Lehrer rattern hier nicht nur den Stoff runter“, berichtet die 16-jährige Andrea. „Wir machen insgesamt weniger – aber wenn etwas durchgenommen wird, dann so, dass es wirklich alle verstehen.“

Was ist das? Der Bericht von einem anderen Stern des Lernens? Eine gut inszenierte Showveranstaltung? Nein, es ist die Deutsche Schule in der finnischen Hauptstadt Helsinki. Während man sich in Deutschland den Kopf darüber zerbricht, wie Schule besser werden könnte, gibt es in Helsinki bereits ein gutes Exempel.

Exklave im Wunderland

Die „Deutsche Schule Helsinki“ ist anders. Die 1881 gegründete Schule ist so etwas wie eine deutsche Exklave im Bildungswunderland Finnland, dem allseits beklatschten Pisa-Sieger. „Ich erlebe hier etwas, was ich an deutschen Schulen nicht immer gespürt habe: Schule kann gut tun“, sagt Claudia Lehtovouri. Die Lehrerin meint damit den positiven Umgang zwischen Schülern und Lehrern. In Hamburg, wo sie früher unterrichtete, war sie das nicht gewohnt.

Das Gespräch zwischen Lehrern und Schülern, der Unterricht also, gilt heute als das drängendste Problem deutscher Schulen. Unter Experten gilt es als ausgemacht, dass die Lernatmosphäre mehr zählt als alle anderen Einflüsse auf die Schule. „Es geht nicht darum, dass wir in Deutschland etwa zu wenig pauken würden“, sagt der Kieler Schulforscher Manfred Prenzel, „sondern dass wir mit mehr Verstand lernen.“

Die Forscher finden in deutschen Klassenzimmern wenig Erfreuliches. Der Unterricht ist fachlich solide – aber didaktisch und methodisch meist einförmig. Die Lehrer trainieren ihre Schützlinge mehr auf kurzfristiges Memorieren als auf problemlösendes Herangehen. Die Pauker missbrauchen Unterrichtsgespräche zu häufig fürs bloße Abfragen und geben den Schülern kaum die Möglichkeit, aus ihren Fehlern zu lernen.

Didaktisches Debakel

Die typische deutsche Unterrichtsszene illustriert das didaktische Debakel: Der Lehrer präsentiert der Klasse ein meist anspruchsvolles Thema – und versucht die Schüler durch Fragen zum Mitmachen zu ermuntern. Schnell führen dann Missverständnisse zu einer Art Verhörsituation. Die Schüler fühlen sich in die Enge getrieben, der Lehrer fahndet mit immer konkreter werdenden Fragen nach einer Antwort. Am Ende, so beschreibt der deutsche Pisa-Chef Jürgen Baumert die absurde Situation, „können die Fragen so simpel sein, dass es den Schülern peinlich ist, sie zu beantworten“.

Solche Befunde zeigen das eigentliche Problem hinter dem Pisa-Schock: Schule demotiviert. Der Unterricht verschreckt die Schüler mehr, als dass er sie anregt. Bei der „Sendung mit der Maus“ fühlen sich die Kleinen wie Forscher – in den Schulen aber wird ihnen ihr Lerninteresse wirksam ausgetrieben. Kein Wunder, dass die Pädagogen aus dem Land von Pestalozzi, Fröbel, Humboldt und Hentig auf Abhilfe sinnen.

In Modellversuchen probiert man nun bundesweit, die Lehrer zu inspirieren und den Unterricht didaktisch aufzulockern. Drei wesentliche Faktoren spielen dabei stets eine Rolle: die Lehrpläne, die Lehrerbildung und die Lernkultur selbst. Anregend kann Unterricht nur sein, wenn die Lehrpläne nicht alles im Detail vorschreiben; wenn der Lehrer methodisch fit ist; und wenn eine positive Lernkultur herrscht. In allen drei Bereichen werden die Schulreformer viel zu tun haben – die Voraussetzungen für inspiriertes Lernen sind schlecht:

– Deutschland gilt als das Land der detailliertesten Lehrpläne überhaupt. Für jedes Fach und jede Jahrgangsstufe liegen voluminöse Werke vor, die dem Lehrer praktisch jeden Lernschritt vorschreiben. Zum Vergleich: Der schwedische Lehrplan für die Klassen eins bis neun besteht aus einer 22 Seiten dünnen Broschüre.

– Die Ausbildung der Lehrer ist ein lange bekanntes Problem. Hier hat die Pisa-Studie schnellen Reformbedarf aufgedeckt. Die Schwierigkeit ist allerdings, dass sich das Lehrerstudium nur zäh verändern lässt. Typisch der Zeitplan des Landes Berlin: Die erste reformierte Lehrerbildung nach Pisa beginnt im Studienjahr 2003/2004 – mit einer achtjährigen Probephase.

– In Deutschland ist es besonders schwer, über die Lernkultur auch nur zu diskutieren. Auf der einen Seite steht die vermeintliche Kuschelpädagogik der Achtundsechziger, auf der anderen die Leistungsschule. Beides sind höchst theoretische Konzepte – in Reinform gibt es heutzutage weder die Schule mit dem Rohrstock noch die rein antiautoritäre Erziehung. Der Versuch der Parteien, mit dem Motto „Fördern und Fordern“ die Brücke zu schlagen, ist nur rhetorisch gelungen (siehe Kasten). In Wahrheit stehen sich die bildungspolitischen Positionen nirgends schroffer gegenüber als bei der Lernkultur.

Das Land ist gespalten

Ist die deutsche Schule also unreformierbar, weil das Land über das Kerngeschäft von Schule, den Unterricht, tief gespalten ist? Nicht unbedingt. Das lehrt der Blick auf die Deutsche Schule Helsinki. Die im Zentrum der finnischen Hauptstadt gelegene Einrichtung ist ja immer noch ein deutsches Gymnasium mit deutschem Lehrplan, sie hat neben finnischen auch deutsche Schüler und Lehrer. Dennoch ist es dort gelungen, besser zu unterrichten als in der Bundesrepublik.

Das Vorgehen könnte wie eine Blaupause für eine Unterrichtsreform im Mutterland gelten. Der Lehrplan wurde gründlich entrümpelt. Die LehrerInnen können seitdem viel stärker Lerntechniken in den Vordergrund rücken: offenen Unterricht, Projekte, Teamteaching. Und die andere Lernkultur hat fast von selbst Einzug gehalten – die finnischen Lehrer und Schüler tragen sie in die deutsche Schule hinein. Die Grundidee lautet: Fördern statt Auslesen. Oder, wie es die 16-jährige Schülerin Tanja sagt: „Die Lehrer stellen sich hier nicht über die Schüler.“