Jahrmarkt im Zeitalter der Globalisierung

Die Versteigerung der liegen gelassenen Gepäckstücke der Lufthansa in den Gropius-Passagen wird im Lauf der Stunden zu kapitalistischem Voodoo. Das Mindestgebot für ungeöffnete Koffer ist 50 Euro. Wer einen ersteigert, erlebt, wie es ist, von einer Reise zurückzukommen mit fremdem Gepäck

von WALTRAUD SCHWAB

Lust und Horror für den Berliner: Zurückkommen von der Reise mit fremdem Gepäck. Heute wird in der Stadt noch einmal die Chance geboten, sich dieser Fantasie hinzugeben. Denn einmal im Jahr wird das in den Flugzeugen der Lufthansa weltweit Liegengelassene lastwagenweise nach Berlin gekarrt und in den Gropius-Passagen an der Johannisthaler Chaussee versteigert. Ungeöffnete Koffer ab 50 Euro, Taschen schon ab 15 Euro. Dazu Buggys, Sonnenschirme, Handys, Krücken, Motorradhelme, Kameras, Fahrräder, Gebisse oder Schiffsschrauben. „Sie glauben gar nicht, was die Leute alles mitschleppen auf die Reise und dann im Flugzeug liegen lassen“, sagt Birgit Wendt, vereidigte Auktionatorin. Zusammen mit ihrem Mann hat sie die Lizenz, das Gefundene unter den Hammer zu bringen. Jeden Monat in einer anderen Stadt. So wird ein echter Jahrmarkt im Zeitalter der Globalisierung geboten. Denn wenn es ums Gepäck geht, liegen das des Sextouristen oder Industriellen und das des Migranten Seite an Seite.

Spektakulär sieht dieser Kofferberg, der mitten im Einkaufszentrum liegt, nicht aus. Eher wie ein Haufen Abgelegtes, Aussortiertes. Wie Wohlstandsmüll. Ein paar Neuköllnerinnen flanieren kopfschüttelnd darum herum. „Ich versteh das nicht“, sagt eine. „Wenn ich verreise, nehme ich mein Gepäck doch mit. Hier, gucken Sie, Skier oder da, das Bügelbrett. Ich bügle nicht im Urlaub. Auch nicht für meinen Mann.“ Ersteigern würde sie das niemals.

Ganz anders sehen es die mehreren hundert Leute, die zu Beginn der Auktion plötzlich doch dort auftauchen, wo vorher kopfschüttelndes Desinteresse herrschte. Umrahmt von McDonald’s, Pizza Hut, Tchibo und Pimkie, haben sie auf den weißen Gartenstühlen, die nun im Rondell des Einkaufszentrums in der Nähe der Rolltreppen stehen, Platz genommen. Andächtig wie in einer Kirche. Rothaarige Frauen in Tigermusterblusen oder Polyesterkleidern, Männer in Bermudashorts, offenem Hemd, mit goldenem Sternkreiszeichen um den Hals, wagemutige Unerfahrene, Verliebte, die sich selbst beim Steigern umarmen, und arabische Clanchefs. Alle sind bereit, auszuharren, denn im Sotheby’s der Kleinbürger wird das Liegengelassene nun ohne Unterbrechung bis abends um acht an den Berliner gebracht.

Heinz-Dieter Wendt ist der Antreiber, Anpreiser, der Mann mit dem Hammer. „Was Sie ersteigert haben, gehört Ihnen“, erläutert er. „Umtausch-, Rückgabe- und Reperaturrecht ausgeschlossen.“ Seit mehr als einer Dekade macht er den Job. 8.000 Gepäckstücke im Jahr. Was drin ist, weiß er nicht und will es nicht wissen. Seine Aufgabe ist das Zahlenspiel. „Koffer ohne Griff, grün, gut erhalten. Wir beginnen bei 50, wer bietet mehr? 55, 60, 65 zum Ersten, zum Zweiten, 70, 75 und niemand mehr, 75 zum Ersten, 80 zum Ersten, zum Zweiten, 80 zum Ersten, zum Zweiten und 80 zum Dritten.“ Eine Frau im Sommerkleid hat den Zuschlag bekommen. Bezahlen muss sie noch 18 Prozent zusätzlich, den Erlös für das Auktionshaus. Die Frau wird noch weitere Koffer ersteigern. Vor allem das Ungeöffnete interessiert sie. Die Überraschung, für Sekunden eintauchen in das Leben eines anderen. Vielleicht das große Los ziehen oder Enttäuschung überwinden. So gibt es Adrenalin für ein Instantabenteuer. Eine Reise muss sie dafür nicht antreten.

Drei Monate liegt das Vergessene in den Lufthansa-Kellern. Die Gepäckstücke werden geöffnet und inventarisiert. Sämtliche Informationen über Inhalt und Aussehen gehen an den Zentralcomputer in Atlanta, an den alle Fluglinien angeschlossen sind. Die Daten werden mit den dortigen Verlustmeldungen abgeglichen. Bei einer Übereinstimmung von 53 Prozent gilt das Objekt als gefunden. Nach drei Monaten wird Nichtabgeholtes zur Versteigerung freigegeben. So wie derzeit in Berlin. Dann gibt es Schlafsäcke für 25 Euro, Bettgarnituren, mit Herzen bestickt, für 38, einen Plastikschlitten für 26, einen Rucksack mit Taucherausrüstung für 140, eine Kamera für 330 Euro, und für 5 Euro bekommt ein Wagemutiger eine Plastiktüte, in der sich neben Klamotten auch Badeschlappen und eine Bratpfanne befinden.

Schnellentschlossene und Möchtegernzocker sind in den Gropius-Passagen am Werk. Eine Frau, die ihren Koffer am Rande der Veranstaltung öffnet, findet eine Kamera zwischen den Unterhosen, während vier arabische Frauen entsetzt sind, dass ihr Pascha für eine Tüte Taschenmesser 42 Euro bezahlt. Die meisten, die etwas ersteigert haben, können es am Ende kaum fassen. Denn im Singsang der immer wiederkehrenden Zahlen verschwimmt die Wirklichkeit. Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten wird Litanei, wird kapitalistisches Voodoo.