Unerklärliche Phänomene in Tschernobyl

Das Personal, das an der Sanierung des Katastrophenreaktors gearbeitet hat, leidet an Folgen verminderter Hirnfunktion

OSLO taz ■ Zehntausende von Menschen, die nach der Tschernobylkatastrophe vom 26. April 1986 mit Sanierungsarbeiten an der strahlenden Atomreaktorruine beschäftigt waren, sind mittlerweile nicht nur von Krebserkrankungen befallen. Bei vielen haben sich bis dato auch unerwartete Auswirkungen herausgestellt. So klagen sie über vermindertes Sprechvermögen, Depressionen, Gedächtnisstörungen und Konzentrationsprobleme. Das berichteten russische ÄrztInnen zuletzt auf einem internationalen Krebskongress in Oslo.

Julia Malowa, die als Psychiaterin beim Moskauer Zentrum für Strahlenerkrankungen ausschließlich mit Tschernobyl-ArbeiterInnen zu tun hat, erklärte: „Unsere Theorie ist, dass auf irgendeine Weise die Blutzufuhr zum Gehirn vermindert worden war und möglicherweise noch wird.“ Da es bislang noch keine Hinweise dafür gibt, dass solche Störungen direkt auf Strahleneinfluss zurückgeführt werden können, tappe man über die Ursachen noch im Dunkeln. Möglicherweise seien es Auswirkungen des Stresses. Die Erkrankungen seien aber in ihrer Häufigkeit signifikant höher als bei der restlichen Bevölkerung. 48 Prozent der mittlerweile gestorbenen und obduzierten SanierungsarbeiterInnen seien aufgrund von Blutgerinseln oder Problemen mit der Blutzirkulation verstorben. Krebs komme als Todesursache mit 28 Prozent an zweiter Stelle.

Von den zu den Aufräumarbeiten meist zwangsrekrutierten Soldaten der Roten Armee sind knapp 20.000 in Behandlungs- und Forschungsprogramme einbezogen. Laut Malowa gehe es den meisten psychisch wie physisch ausgesprochen schlecht, sie hätten es schwer, ihre traumatischen Erinnerungen zu verarbeiten, und oft Probleme, eine Arbeit zu finden. Sie vermissen auch Anerkennung und Unterstützung des Staates und fühlten sich um ihr Leben betrogen. Bei den Krebserkrankungen dominierten mit weitem Abstand solche der Lungen und Luftwege.

Auf dem Kongress wurden auch neue Zahlen zu den direkten Folgen der Tschernobylkatastrophe bei der Zivilbevölkerung in der Ukraine und Weißrussland präsentiert. Danach sind mindestens 2.000 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Einfache Behandlungsmethoden wie die Verabreichung von Jodtabletten hätten einen Großteil der Erkrankungen verhindern können – wie auch von den sowjetischen Behörden versäumte Warnungen, etwa keine Milch zu trinken. REINHARD WOLFF