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: Experimentelles Immergrün: Mit zwei CDs feiert der DAAD 35 Jahre Einladungen an Komponisten nach Berlin

Nie klang Cage so romantisch, „expressivo“

Die „Sonatas and Interludes“ gehören mit ihren freundlich schnatternden Rhythmen und ihren niedlich verspielten Melodien zu den zugänglichsten Werken von John Cage. Mehr aus Not denn aus Notwendigkeit, so geht die Legende vom schöpferischen Moment, hatte Cage dem Klavier Bolzen, Schrauben und dergleichen Gegenstände mehr zwischen die Saiten geklemmt; man hatte eine geplante Schlagzeugmusik für eine Aufführung der Merce Cunningham Dance Company aus Platzmangel aufs Klavier verlegen müssen. Dass dieser fast verzweifelte Kunstgriff zu einer wichtigen und bleibenden Neuerung instrumentaler Technik avancierte, ist eine Sache. Dass Cage mit den zwanzig Miniaturen „Sonatas and Interludes“ einen echten Hit geschrieben hat, eine andere.

Jetzt hat der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) eine von zwei CDs, mit denen er das 35-jährige Bestehen seines Künstlerprogramms feiert, allein Cages experimentellem Evergreen gewidmet. Zunächst reagiert man eher verzagt, liegt doch ausgerechnet dieses Werk in ungezählten Aufnahmen vor. Von den musikalischen Abenteuern, die der DAAD in den vergangen Jahrzehnten in Berlin ermöglicht hat, hätte man gerne ein entlegeneres, wilderes Terrain auf Tonträger verewigt gesehen. Aber der Unmut über die verschenkte Chance hält höchstens so lange an, bis die Musik erklingt. Denn der Pianist Mario Bertoncini weicht bei seiner Aufnahme von der gängigen Lesart dieses Stückes ab.

Erstens hat Bertoncini den Akt der Präparation der Klaviersaiten zu einer eigenen Kunst erhoben. Er hat die Angaben Cages überprüft und sie auf den jeweils verwendeten Flügel abgestimmt. Man lernt: Cages präpariertes Klavier muss nicht nach Toypiano aus Blech und Plastik klingen, wie dies in den meisten anderen Aufnahmen der Fall ist. Bei Bertoncini klingt alles weich, trüb, manchmal fast geschmäcklerisch verraucht und immer näher am Klangbild indonesischer Gamelanmusik als an der Spielzeugindustrie.

Zweitens hat Bertoncini erkannt, dass Cages verspielte Miniaturen keineswegs – auch dies ist ein Gemeinplatz der Interpretationsgeschichte – mechanistisch entfremdet, mit sprödem Rattern vorgetragen werden müssen. Bertoncini spielt diese Stücke im Gestus romantischer Miniaturen, als hätte Robert Schumann ein „espressivo“ darübergesetzt. Er strapaziert das Tempo, staucht und dehnt die Phrasen, spielt hier mit ängstlich zurückgezogenem Anschlag, dort mit gewichtigem Pathos. Es ist mehr als die ungewöhnliche Interpretation eines Klassikers, der man hier begegnet: Bertoncini bildet musikalische Charaktere aus und erzählt kleine Geschichten. Er befreit die „Sonatas and Interludes“ damit vom Status des instrumententechnischen Kuriosums und überführt sie in den Kanon der großen Klavierliteratur.

Auf einer zweiten CD gibt der DAAD Einblick in die Arbeit vergangener Jahre mit einem Schwerpunkt auf elektroakustischen Werken. Auch hier mag man den Überblick einerseits schätzen, und trotzdem wird man argwöhnisch bei der Werkauswahl, die unter einem ausgeprägten Hang zum Esoterisch-Ätherischen leidet. Das meditative Wabern des Long-String-Instrument von Ellen Fullmann und der Ethnokitsch des englischen Komponisten Fast Forward sind die Höhepunkte von 35 Jahren DAAD – Gott sei Dank – nicht gewesen. Und auch Mario Verandis plätscherndes „Plastic Water“ wirkt ein wenig zu naturverspielt. Am Ende ist es vor allem das 30-minütige Schlagzeugstück „Pallas/Construction“ der österreichischen Komponistin Olga Neuwirth, das mit seinen kühlen Science-Fiction-Klängen zwischen Sphärenmusik und düsteren Visionen auch diese zweite CD zu einem wichtigen Tondokument machen.

BJÖRN GOTTSTEIN

John Cage: „Sonatas and Interludes“ (DAAD; edition RZ)Diverse: „Zeitenwechsel 2“ (DAAD; edition RZ)