■ Vom Dinosaurier – zack – in die Neuzeit
: Evolutionsgeschichten erfinden

betr.: „Alte Mütter, neue Männer“ von Detlef Gürtler, taz vom 6. 7. 02

Was will uns der Autor sagen: Dass die Ruhe des Alters das genetische Programm „Sei aggressiv!“ ändert? Oder glaubt er wirklich, dass die alten Säcke, die heutzutage noch Vater werden, sich früher nie und nimmer fortgepflanzt hätten?

Dass Frauen den Kindsvater nicht allein nach seinen breiten Schultern, sondern auch nach seiner Attraktivität als Lebenspartner aussuchen, ist eine richtige, empirisch sicherlich leicht zu bestätigende Feststellung. Dieses Phänomen lässt sich aber nicht erst seit 1998 beobachten: Frauen haben schon immer mit einigem Erfolg „nach oben“ geheiratet, und dabei scheinen Schulterbreite und Kampfesmut die geringste Rolle gespielt zu haben. Denn Reichtum hat bekanntlich weniger mit dem Alter, als vielmehr mit so was wie Herkunft zu tun. Gürtler übersieht an dieser Stelle im Übrigen, dass Frauen mittlerweile auch in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, und es ist nicht auszuschließen, dass auch das Einfluss auf ihr Partnerwahl-Verhalten haben wird!

Wenn schon Evolutionsgeschichte, dann sollte man auch schön zwischen biologischen Grundlagen und sozialen Auswirkungen trennen. Erziehung beeinflusst den genetischen Code nicht, hat aber natürlich gesellschaftliche Auswirkungen, und das nicht zu knapp. Es kann für die Erziehung positive Auswirkung haben, wenn man sich in einer sicheren Lebensphase bewusst für ein Kind entscheidet. Aber das ist nur die eine Seite – die Entfremdung zwischen Eltern und Kind, wenn mehrere Generationen zwischen der Jugend der Eltern und der des Kindes liegen, ist die andere. Und ob da besonders menschliche oder auch nur besonders soziopathische Kinder bei rumkommen, das werden wir vielleicht in einigen Jahren erfahren.

Immer wieder spaßig zu beobachten ist die Tendenz von Anfängern in Sachen „Evolutionsgeschichten erfinden“, dass sie von den Meteoriteneinschlägen und den Steinzeitmenschen – zack! – in der neuesten Neuzeit landen, als hätte es inzwischen mehrere Hochkulturen, Völkerwanderungen und zivilisatorische Umwälzungen nicht gegeben. Auch dass in den Augen des Autors der genetische Code der Mutter scheinbar überhaupt keine Auswirkung auf das Aggressionspotenzial des Kindes hat und dass uns nur noch das Platzhirschverhalten der Männer als steinzeitliches Überbleibsel in unserer Menschwerdung hindert, finde ich, gelinde gesagt, befremdlich.

Bei nicht empirisch überprüfbaren Theorien geht es nicht nur darum, eine plausible Geschichte zu erzählen. Das kann jeder. Sie sollte auch einigermaßen mit den Tatsachen in Einklang zu bringen sein. Das kann Detlef Gürtler nicht. […]

HANNAH LEICHSENRING, Bielefeld

Ob Frauen sich immer später „entschließen, Kinder zu kriegen“, ist nicht der Punkt, Herr Gürtler. Vielmehr ist es so, dass die Herren der Schöpfung in der großen Mehrzahl bis zu einem gewissen Alter nicht einmal für Gedankenspiele in Richtung von Verbindlichkeit und evtl. Familienplanung zur Verfügung stehen. Das verschiebt den „Entschlusszeitpunkt“ zwangsläufig.

KAREN SCHULZ, Essen

Eine hübsche Idee, die Detlef Gürtler seinem Text da zugrunde legt: dass es „ein menschliches Privileg (sei), Sex und Babys voneinander trennen zu können“ – aber schon lange widerlegt! Bereits in den fünfziger Jahren bewiesen amerikanische Studien: Säugetiere und Vögel vögeln nicht nur. Sie onanieren, und das tüchtig, mit Pfoten, Tatzen, Schnäbeln, Rüsseln, die höheren Säuger auch unter Zuhilfenahme von Instrumenten wie Stöckchen, formschönen Früchten u. ä., und immer wieder lassen sich inmitten eines Harems williger Äffinnen testosteronstrotzende Alphatiere beobachten, und was tun diese Affen, statt ihren Weibchen Babys zu machen? – Sie wichsen. Ob Primaten beim Onanieren eventuell erotische Fantasien entwickeln, wird zurzeit untersucht. Fest steht bereits: Pornografie macht sie nicht an. Sofern man Selbstbefriedigung mit in ein erfülltes Sexualleben rechnet, versteht die Tierwelt also sehr wohl, Sex und Nachwuchs voneinander zu trennen. Allein die Empfängnisverhütung während der Kopulation bleibt Privileg der Krone der Schöpfung. (Nachzulesen in: Michael Miersch: „Das bizarre Sexualleben der Tiere“, München 2001). KRISTINE JAATH

Gürtler idealisiert den Fall, dass nur Leistungsstarke Familien gründen. Von modernen Familienorganisationen scheint er nichts zu halten – „schließlich kriegen Männer keine Kinder“. Familien sind dem gesellschaftlichen Leistungsdruck am schutzlosesten ausgesetzt, die größten Repressalien erfahren junge Eltern, die nicht verheiratet sind oder in anderer Weise vom konservativen Familienbild abweichen. Sie müssen zwischen Verantwortung gegenüber den eigenen Kindern und beruflicher Selbstverwirklichung abwägen (sofern drohende soziale Randständigkeit eine solche Überlegung überhaupt zulässt). Dieser Gesichtspunkt wird besonders deutlich, wenn man von jungen Familien ausgeht und nicht von jenen, die ihre Karriere betreiben, irgendwann um die Midlife-Crisis doch noch auf eigene Kinder zurückgreifen und umso selbstverständlicher die neuesten Errungenschaften der Eugenik zur Anwendung bringen. Oder von jenen, die zwar Kinder haben, aber ihr Leben nicht danach ausrichten und dafür überall hohe Anerkennung finden. Gürtler weicht dem Problem, sich in unserer Gesellschaft für Kinder zu entscheiden, mit Polemik aus: Stärke und Aggressivität ist kein instinktives Genom, das in der Wildnis beheimatet ist. In unserer „Wissensgesellschaft“ waltet sehr wohl das Recht des Stärkeren, was gerade Familien in der Berufswelt zu spüren bekommen. Dass Gürtler abschließend auch noch auf das Aussterben der Dinosaurier abhebt, ist Ausdruck größter Geringschätzung des Themas. […]

ARNT GOEDE, Hamburg

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