Ein Loch im Panzer

Lance Armstrong hat den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren. Nun ist die Frage, ob er sich diesen in den Bergen wieder zurückholen kann. Vor allem Santiago Botero könnte dies verhindern

aus Bordeaux SEBASTIAN MOLL

Wenn einem, der es gewohnt ist, schwerelos über die Landstraße zu gleiten, plötzlich die Erdanziehung in den Nacken drückt, dann spürt er das sofort. Lance Armstrong brauchte nach dem langen Zeitfahren von Lorient keine Zeitmessung und keine Ergebnisliste abzuwarten, um zu wissen, dass er nach drei Jahren in der dünnen Luft, die nur Ausnahmekönner schnuppern dürfen, in die Niederungen des ganz gewöhnlichen Radsports zurückgekehrt war. „Ich habe mich okay gefühlt heute“, sagte er nach seinem zweiten Platz hinter Santiago Botero, seiner ersten Niederlage im Kampf gegen die Uhr seit 1999, als er erstmals die Tour gewann. „Nicht besonders gut, nicht besonders schlecht, einfach nur okay.“

Eben diesen Eindruck hatte Armstrong bei Beobachtern und seinen Konkurrenten hinterlassen. Okay, nicht mehr. „Armstrong ist auf ein normales Maß zurückgefallen“, kommentierte L’Equipe und folgerte: „Man darf zweifeln.“ Denn bei den bislang sieben Tour-de-France-Zeitfahren, die Armstrong seit 1999 gewann, war erst zweimal ein Fahrer auf weniger als eine Minute an ihn herangekommen: 1999 Alex Zülle und 2000 Jan Ullrich. Diesmal war nicht nur einer schneller, sondern gleich sechs folgten im Abstand von weniger als 50 Sekunden.

Dennoch: Armstrong hat noch lange nicht die Tour verloren. „Ich habe noch nie die Tour in den Zeitfahren gewonnen“, weiß er selbst. Schließlich: „Die größten Abstände habe ich immer in den Bergen erreicht.“ – „Bis jetzt wurden die Abstände sekundenweise herausgefahren“, macht auch der sportliche Leiter von Armstrongs US-Postal-Team, Johan Bruyneel, sich selbst und seinem Team Mut. „Wenn es in die Berge geht, werden die Abstände in Minuten gemessen“, glaubt er.

Was Armstrong jedoch schon jetzt verloren hat, ist sein Nimbus. Er ist nicht mehr der Unangreifbare, der Unverwundbare, der seine Gegner angrinst und ihnen dann mit kolibrihafter Leichtigkeit davonfährt. „Er ist zu schlagen“, glaubte nach den 52 Kilometern von Lorient Vicente Belda, der sportliche Leiter des Kelme-Teams, dem der Zeitfahrsieger Santiago Botero angehört.

Mit seinem Nimbus hat Armstrong vielleicht sein größtes Kapital verloren. Im vergangenen Jahr war es alleine Jan Ullrich, der etwas gegen Armstrongs Übermacht unternahm; alle anderen, darunter auch die Herausforderer dieses Jahres, Botero, Igor González de Galdeano sowie Joseba Beloki, ergaben sich in ihr Schicksal. Und auch vor der Tour 2002 schien es, als würden die Konkurrenten angesichts von Armstrongs Stärke in Fatalismus verfallen: „Es hat gar keinen Sinn, ihn anzugreifen“, meinte vor dem Tour-Start etwa noch Jens Voigt von Crédit Agricole.

Doch Botero hat das Loch in Armstrongs Panzer gefunden, und so muss sich der Amerikaner selbst Mut zusprechen, bevor es morgen in die Pyrenäen geht. „Ich glaube, dass ich in der Vorbereitung mehr für die Berge trainiert und deshalb die spezielle Arbeit für das Zeitfahren vernachlässigt habe“, sagt Armstrong. Wenn das stimmt, wäre er in den Bergen noch überlegener als in den Vorjahren und der Sieg ihm nicht zu nehmen. Zur Unterstützung von solchem Zweckoptimismus redete der Texaner die Niederlage zusätzlich schön: Im Klassement vor ihm liege nicht der wahre Kapitän der Once-Mannschaft, sondern nur der Zeitfahrspezialist Galdeano. Gefahr drohe in den Bergen jedoch von Joseba Beloki – und dem habe er eineinhalb Minuten abgenommen.

Erstaunlicherweise rechnet man bei US-Postal in den Bergen in erster Linie mit den Once-Fahrern Galdeano und Beloki, die nach dem Zeitfahren unisono gelobten: „Wir werden ihm ernsthafte Probleme bereiten.“ Dass Santiago Botero Armstrong in Schwierigkeiten bringen könnte, scheint der Amerikaner indes nicht zu befürchten. Dabei spricht trotz der anderthalb Minuten Rückstand auf Armstrong einiges für den Kolumbianer. Denn Botero ist von Haus aus vor allem Bergfahrer: 2000 gewann er bei der Tour die Königsetappe in den Alpen sowie das gepunktete Trikot des Bergbesten.

Auf dem damaligen Erfolg lastete indes ein Makel: Im Winter 1999/2000 saß Botero eine Dopingsperre ab. Seine Testosteronwerte waren bei mehreren Tests aufgefallen; der kolumbianische Verband musste reagieren, obwohl Botero Atteste für einen auf natürliche Art erhöhten Wert beibrachte. Inzwischen scheinen seine Werte auf wundersame Weise gesunken zu sein, die Sache ist verjährt. Und die Stärke, die man zum Zeitfahren braucht, bringt der Kolumbianer jetzt offenbar auch ohne Testosteronschub auf. Botero: „Ich spüre, wie sich in meinem Inneren eine Kraft ausbreitet.“