„Holzbein ist die Ausnahme“

Am Samstag beginnen die Handicap-Weltmeisterschaften der Leichtathletik in Lille. Bei den Unterschenkelamputierten startet mit Marcus Ehm der dreifache amtierende Europameister

von ULRIKE BOHNSACK

„Hier ist sie.“ Marcus Ehm hält die L-förmige Carbonfeder in den Händen: am oberen Ende ein Schaft von der Länge eines Unterschenkels, unterm L ein Streifen gelbe Sohle mit Spikes. „Eine Spezialanfertigung nach Laufanalyse, Körpergewicht und so weiter. Quasi eine Imitation meines linken Fußes.“ Der rechte fehlt seit seiner Geburt. Ein Handicap, das für Ehm keines ist. „Weil ich es nicht anders kenne.“ Links Turnschuh, rechts Sportprothese, so hat er Fußball und Handball gespielt – „ganz normal eben“, mit Nichtbehinderten. An dem „ganz normal“ hat sich auch nichts geändert, als er vor zehn Jahren zur Leichtathletik wechselte und damit zum Leistungssport.

11,64 sec (100 m), 23,74 sec (200 m) und 54,32 sec (400 m): Die Zeiten des Sprinters aus Sigmaringen sind schon im Feld der Nichtbehinderten überdurchschnittlich, bei den baden-württembergischen Meisterschaften erreichte er damit gute Platzierungen. In der stark besetzten Klasse der Unterschenkelamputierten sind solche Zeiten mindestens europäische Spitze. Amtierender deutscher und Europameister über alle drei Distanzen und Zweiter der Paralympics von Sydney über 400 Meter ist Marcus Ehm und wagt für Lille dennoch nur eine vorsichtige Prognose. In der nordfranzösischen Stadt werden ab morgen die neuen Handicap-Weltmeister der Leichtathleten ermittelt. Das ist vor allem eine Angelegenheit der Konkurrenz aus den USA und Australien, „und das bestimmt nicht, weil sie die besten Prothesen haben“. Technisches Doping habe es früher mal gegeben, sagt Ehm, als sich Athleten aus ärmeren Ländern die Carbonfeder nicht hätten leisten können. „Heute ist es eine Ausnahme, wenn einer mit einem Holzbein ankommt.“ Siegen durch frisierte Prothesen? Unrealistisch. „Ein Athlet ist immer nur so gut, wie das gesunde Bein trainiert ist, sagt man.“

Er selbst ist nicht in Topform. Die Achillessehnenbeschwerden und das zweite juristische Staatsexamen haben keine optimale WM-Vorbereitung zugelassen. Dreimal wird er in Lille dennoch in den Startblock gehen. Über die Sprintstrecken setzt er sich die Endläufe zum Ziel. Über 400 Meter, seine Spezialstrecke, „wäre eine Medaille schön“, sagt er und tippt auf den Australier und Weltrekordler Neil Fuller (51,89 sec) als neuen alten Weltmeister. Auf große Medienpräsenz und volle Zuschauerränge möchte er lieber nicht setzen. Sydney war eine Ausnahme, Sydney ist eben Australien. Immerhin, ein bisschen von dem schönen Gefühl, wie es sein könnte mit dem öffentlichen Interesse, konnte er noch bei den Einlagenläufen während der Golden-League-Meetings oder der WM in Edmonton genießen. Von der Anerkennung durch nichtbehinderte Sportler redet Ehm nicht, „die ist sowieso da“.

Handicap – Behinderung: Für ihn ist Ersteres „nur eine englische Übersetzung desselben Begriffs“, eher unerheblich für die Akzeptanz der Behindertensportler, die in Europa trotz aller positiven Entwicklung nicht mit den USA oder Australien zu vergleichen sei. „Die Hand drücken kann jeder. Ich messe es auch an finanziellen Parametern.“ Ehm, der Europameister, weiß immerhin kleinere Sponsoren hinter sich. Auch die teure Rennprothese, die bei seinem wöchentlichen Trainingspensum von 50 Kilometern in spätestens zwei Jahren durch ist, wird finanziert. Dazu erhält er ein wenig Sportförderung aus einem Topf des Behindertenverbandes, den sich immer mehr Athleten teilen.

„Athen ist noch ein Thema“, sagt der 30-Jährige und hat sich nicht nur deswegen sportlich an den Verein gebunden, der ihm als behindertem Kaderathleten am meisten bietet. Seit 1999 startet er für TV Wattenscheid, „weil der führend ist, was Integration und Unterstützung angeht“. Trainiert wird er von Dietmar Ragsch. Der betreut zwei behinderte und sechs nichtbehinderte 400-Meter-Läufer, darunter auch den neuen deutschen Meister über 400 Meter Hürden, Henning Hackelbusch. Ragsch und Ehm, Trainer und Athlet, sehen sich bis auf die gemeinsamen Trainingslager eher selten. Man hat sich auf eine unkonventionelle Zusammenarbeit geeinigt: Den wöchentlichen Trainingsplan setzt Ehm zu Hause in Sigmaringen um. Sonntags folgt dann ein längeres Telefonat über Zeiten, Intensitäten und Umfänge der Einheiten. „Das funktioniert nur, sagt Ragsch, „weil Marcus ein hohes Maß an Disziplin und Selbsteinschätzung hat.“

Auch in Lille wird der Trainer nicht dabei sein können, „wegen der EM-Vorbereitung auf München“. Ragsch bedauert, dass er Prioritäten setzten muss. Marcus Ehm ist daran gewöhnt. Wichtiges wird am Handy besprochen. „Das Ergebnis“, sagt Ragsch, „krieg ich von Marcus dann wie immer – als SMS.“