Präser erst bei den Nazis

Bremer Matrosen in der Nazi-Zeit: Sie fuhren unter der Hakenkreuzflagge, aber Ausfälle gegen Ausländer an Bord gab es offenbar wenige

„Das Wort ‚Nigger‘ taucht in den Quellen kaum auf“, sagt der Historiker

Südlich von Verden ist eh alles klar: Da haben sie Anker und Meerjungfrauen auf dem Bizeps, wurden in einer Hafenbar shanghait und singen ansonsten den ganzen Tag Alloah Eh. Zum Glück gibt es die Wissenschaft, die immer wieder herausforscht, dass Klischees Kokolores sind.

Gestern übernahm der Bremerhavener Historiker Thomas Siemon die Rolle des forschenden Entzauberers. Buchvorstellung im Staatsarchiv. Eine Dissertation mit dem Thema Bremer Seeleute vom Ende der Weimarer Republik bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Titel: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen. 600 Seiten dick, knapp 800 Anmerkungen, das Produkt ewigen Studiums in Archiven und sogar von Gesprächen mit Zeitzeugen. Gefragt aber, was denn so die Quintessenz der Schwarte sei, antwortet Siemon zunächst nur schlicht und ergreifend: „Den Seemann an sich gibt es nicht.“

Soso, tschüss und danke.

Also selbst ans Studium des Wälzers, das dann höchst interessante Ergebnisse zu Tage fördert. So kommt heraus, dass die Seekasse schon 1929 folgendes Flugblatt unter den Matrosen verteilte: „Achtung Landurlauber! Vorsicht bei der Ausübung des geschlechtlichen Verkehrs. 1. Übe den geschlechtlichen Verkehr nie in der Trunkenheit aus! ... 3. Schützt das Glied vor dem Beischlaf durch ein Präservativ oder starke Einfettung.“ Allerdings entschlossen sich erst die Nazis, richtig klar Schiff zu machen: Sie verteilten versuchsweise Präser, damit es nicht zu schlimmen Berufskrankheiten – und wohl auch Rassenvermischung – käme. 1938 waren es sagenhafte 67.000 Stück.

Und natürlich hat sich der Autor auch der Frage gewidmet, wie sich die Herrschaft der braunen Brut denn auf See ausgewirkt hat. Von den rund 15.000 Bremer Matrosen in den 30-er Jahren waren rund 2.500 Inder und Chinesen. Sie wurden angeheuert, da es wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs Arbeitskräftemangel gab. „Sie waren als Kollegen geachtet. Es gab wenige Übergriffe“, erläutert Historiker Siemon dann doch – auf Nachfragen. Außerdem muss es informelle Absprachen zwischen den Bremer Reedern gegeben haben: Um politische Komplikationen zu umgehen, listeten sie die dringend benötigten ausländischen Arbeitskräfte ab 1937 nicht mehr in den Musterrollen auf.

Ohnehin scheinen die Matrosen toleranter gewesen zu sein als viele in der deutschen Landbevölkerung. Zwar bekamen Kommunisten oder „Nichtarier“ massive Probleme. Abgedruckt ist ein Brief, in der sich die Mutter eines „Juden“ aus Wesermünde Anfang 1939 beim Direktor der Argo-Brauerei dafür einsetzt, dass ihr Sohn nicht entlassen wird. Auch wehte ab 1935 nicht mehr Schwarz-Rot-Gold, sondern die Hakenkreuzflagge auf den Handelsschiffen. Aber Siemon hat „wenig Ausfälle in den Quellen gefunden. Das Wort ‚Nigger‘ taucht kaum auf.“ Ausnahme: Die NS-Frauenschaft, die sich an Bord eines „Kraft durch Freude“-Dampfers darüber erregt, dass an Bord schwarze Puppen zum Spielen verkauft werden.

Immerhin gehörten die Seeleute zu den wenigen Deutschen, die das Land damals verlassen durften. „So konnten sie die Propaganda-Phrasen mit der Realität vergleichen“, erklärt der Historiker, und zum Beispiel feststellen, dass die Reichsmark wegen der Autarkiepolitik der Nazis im Ausland kaum noch etwas wert war. Die Gleichschaltung fand aber natürlich auch auf See statt: So traf es den Bordsportverein auf dem Dampfer „Europa“, der sich ab 1934 in „Betriebssportgruppe der Deutschen Arbeiterfront“ umbenennt, weiter aber nichts als Fussball spielt.

Und natürlich gibt es auch die „politisch Korrekten“: Den Oberstewart, der dafür sorgt, dass im Speiseraum Farbige und Weiße getrennt sitzen. Oder den NS-Politfunktionär, der sich beschwert, dass die Mannschaft mit jüdischen Passagieren kungelt. Fazit: Den Seemann an sich gibt es halt nicht. Kai Schöneberg

Thomas Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen. Bremer Seeleute am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930 - 1939, hrsg. vom Staatsarchiv Bremen, 39 Euro.