Die Polizei schuf sich ihre Feinde

Es gibt inzwischen zahlreiche Belege dafür, dass die Karabinieri an einer Eskalation der Demonstrationen in Genua interessiert waren. Zur Verantwortung gezogen wurde bisher jedoch kein einziger Beamter

ROM taz ■ Die italienische Regierung hatte für das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten in Genua von Anfang an eine Begründung: Das Genoa Social Forum (GSF), das breite Anti-G-8-Protestbündnis, habe in engster Komplizenschaft mit dem „Black Block“ agiert und trage deshalb die Verantwortung für hunderte Verletzte und für den Tod des von einem Karabiniere „in Notwehr“ erschossenen Demonstranten Carlo Giuliani. Schließlich seien in der von der Polizei gestürmten Schule auch zwei Molotowcocktails, Spitzhacken und Stahlrohre gefunden, sei dort ein Polizist mit einem Messer attackiert worden, hätten Demonstranten die Polizei mit einem Steinhagel empfangen.

In einem Punkt hat die Regierung Recht: Im Sturm auf die Schule – in dem einen Gebäude befand sich der Sitz des GSF, im anderen eine Schlafstätte für Demonstranten – liegt der Schlüssel für das Verständniss der Ereignisse von Genua. Hier findet sich der Beweis, dass die Polizei vom ersten bis zum letzten Gipfeltag eine präzise, nur durch die Führung selbst zu organisierende Strategie gegen die Demonstranten verfolgte: Sie schuf sich ihren Feind selbst, um ihn dann „entschlossen“ zu bekämpfen.

Einige Beispiele: Der Steinhagel auf die Polizeifahrzeuge. Jener Beamte, der das Protokoll über den Vorfall unterzeichnete, erklärte später vor den Staatsanwälten, er sei selbst gar nicht vor Ort gewesen und habe „durch Hörensagen“ von einem Kollegen, dessen Name ihm entfallen sei, von der vermeintlichen Attacke gegen die Ordnungshüter erfahren.

Die Molotowcocktails: Die beiden Weinflaschen mit ihrem unverwechselbaren Etikett, die in der Schule gefunden wurden, identifizierte ein Polizeioffizier als genau jene Mollis, die er am Rande einer Demonstration am Nachmittag zuvor beschlagnahmt hatte.

Die Spitzhacken und Metallrohre: Sie waren Baustellenmaterial; die Schule wurde gerade renoviert. Die Baufirma forderte monatelang von der Polizei ihr Eigentum zurück.

Die Messerattacke: Laut Befund des Labors der Karabinieri können die Schnittspuren, die auf Jacke und Kugelweste des angeblich attackierten Polizisten gefunden wurden, nicht entstanden sein, während der Polizist beide Stücke anhatte.

Nützliche Dienste leistete der Polizei jedoch tatsächlich der Black Block, der Schwarze Block. Schon die Proteste am Freitag wurden nach dem immer gleichen Schema auseinander getrieben. Beispiel Piazza Manin. Dort trafen sich die katholischen Pazifisten. Die Polizei eskortierte ein Trüppchen von Black-Blockern, bis es auf der Piazza war. Dann flogen die Tränengasgranaten, wurden die Demonstranten von entfesselten Rollkommandos blutig geschlagen. Aber der Furor der Polizei galt mitnichten den „Schwarzen“ – die zogen unbehelligt ab –, sondern den Basiskatholiken.

Beispiel Demonstration der Tute Bianche. In der Nähe des Zugs fackelt der Black Block Autos, Müllcontainer, Geschäfte, Banken ab. Die Polizei schaut zu. Dann attackieren die Ordnungshüter ohne Anlass 10.000 Demonstranten der „weißen Overalls“. CS-Gas nimmt den Menschen den Atem, Mannschaftswagen rasen in die Menge, Prügelkommandos kesseln die Demo ein und machen Jagd auf alle, deren sie habhaft werden können.

Die Demonstranten wehren sich in einer stundenlangen Straßenschlacht. Um 17.27 Uhr dann fällt der tödliche Schuss auf Carlo Giuliani. Angeblich hat der mit anderen zusammen einen „blockierten und isolierten“ Karabinieri-Jeep attackiert. Doch nur 20 Meter vom Jeep entfernt schaut seelenruhig eine Karabinieri-Einheit zu – und nach dem Schuss braucht der Jeep nur viereinhalb Sekunden, um sich aus der „Blockade“ durch einen Müllcontainer zu befreien, indem er den Sterbenden einfach überrollt.

Monatelang erklärt Italiens Polizeichef, die Polizeigewalt habe einer verbotenen Demonstration gegolten, bis schließlich Luca Casarini, Sprecher der Tute Bianche, der Öffentlichkeit die schriftliche Genehmigung präsentiert. Der Polizeichef ist weiter im Amt.

Auch am Samstag, als mehr als 150.000 Menschen zur Demo zusammenströmten, wiederholte die Polizei ihre Eskalationsstrategie. Black-Blocker durften zündeln, dann wurde die Menschenjagd eröffnet. Wer der Polizei in die Hände fiel, kam in die Kaserne Bolzaneto. Drei Tage ohne Kontakt zu Familie und Rechtsanwälten, drei Tage Misshandlungen, Demütigungen.

Ein Jahr nach Genua ist dieser Skandal weitgehend aufgeklärt. Skandalös bleiben die Ereignisse trotzdem: Nicht ein einziger Beamter ist bisher suspendiert. Und so gut wie nichts ist darüber bekannt, wer in Genua hinter der Polizei politisch die Regie führte. Wer gab die Order, friedliche Demonstranten mit Methoden einer Diktatur als Staatsfeinde zu behandeln? MICHAEL BRAUN