Tuschi: Slumber-Wall

„Klein Nemo in Slumberland“ entpuppte sich als wunderschönes Gesamtkunstwerk und grandioses Finale des Wallanlagen-Jubiläums

Flamingoreiter und Seeungeheuer: die Traumwelt war in sich stimmig

Klein Nemo schlief ein, und die Wallanlagen erwachten als Traumlandschaft Slumberland. Dort gibt es einen komischen König Morpheus und eine verwöhnte Prinzessin, die unbedingt das träumende Kind als Spielgefährten haben will. Das will der eifersüchtige Hofnarr Flip mit allen Mitteln verhindern, und so versucht er, Nemos prächtige Schlafphantasien in Alpträume zu verwandeln, denn wenn das Kind immer wieder vor Schrecken aufwacht, wird es den Palast der Prinzessin nie erreichen. Dies ist die Grundstruktur der klassischen Comic-Serie von Winsor McCay, die jetzt, fast 100 Jahre später, in Bremen als grandioses Gesamtkunstwerk neu erträumt wurde.

Janine Jaeggi vom Kontorhaus und Hans König vom Kulturbahnhof Vegesack haben zusammen dieses Spektakel inszeniert und dabei für hiesige Verhältnisse erstaunlich groß und weit gedacht. Über 60 Mitwirkende haben Nemos Träume belebt, die Wallanlage hinter der Kunsthalle wurde zur Bühne, oder besser zu Bühnen umfunktioniert. Das Publikum spazierte mit dem in einem großen Holzbett schlafenden Nemo (in der Liste der Mitwirkenden sind vier „Bettschieber“ aufgeführt) von einer Spielstation zur nächsten, und jede Szenerie war traumhaft schön.

Am Beindruckendsten dabei war, dass „Nemo“ auf so vielen verschiedenen Ebenen überzeugte. Es gab große Effekte und kleine, liebevoll ausgearbeitete Details. Die ganze Traumwelt war in sich stimmig, und als Zuschauer wusste man oft gar nicht, wo man zuerst hinschauen sollte.

Da waren zum Beispiel die Flamingoreiter, die auf den ersten Blick tatsächlich so aussahen, als würden Menschen auf riesigen, rosa Vögeln reiten (“Ich hab erst gedacht, da wäre noch einer mit drinne“ flüsterte ein kleines Mädchen neben mir ihrer Freundin zu.) Oder der König Morpheus, von Mateng Pollkläsener sehr witzig als Mischung aus Cäsar und Oliver Hardy verkörpert. Eigentlich war er aber der „Kinkig“, denn Hans König hat eine eigene und sehr komische Sprache für Slumberland entwickelt. Alleine dafür gebührt ihm schon ein Riesen-“Tuschi“, denn sie klang „zuberhaft“.

Im Wallgraben tauchten Seeungeheuer auf, um Nemo ins Wasser zu ziehen. Kettensägenungeheuer knatterten auf dem Karussel, durch Dr. Pill‘s Pille fiel Nemo in einen psychedelischen Traum im Traum, und bei dem Wettstreit mit Flip gewann er schließlich durch unschlagbares Nichtwissen. Deshalb erreichte Nemo dann doch den Palast der Prinzessin, der auf dem Hügel der Wallanlagen als kleines Freilichttheater aufgebaut war. Und dort lernte Nemo dann, dass er jederzeit träumen könne, was er wolle.

So flog er durch die Welt, und auch dies wurde durch einen gewitzten Trick mit dem realen Nemo mitten in einer Videoprojektion (des leider kurz vor der Premiere verstorbenen Gustav Giesiger) möglich.

Nemo selber wurde von Jasmine und Janine Jaeggi (er konnte ja schlecht gleichzeitig im Bett schlafen und im Wallgraben schwimmen) mit der genau richtigen Mischung von kindlicher Unschuld, Neugier und Tapsigkeit gespielt. Man könnte so noch lange gelungene Effekte und Überraschungsmomente aufzählen: die aufwändige Musik etwa der „Slumberband“, des „Chor don Bleu“ aus dem Blaumeier-Atelier und der Sängerin La Luna, sowie die vier „lebenden Instrumente“. Oder den Zweikopf-Drachen, den furiosen Drahtseilakt über dem Wasser von Eos (Danilla Franzen) und die Kostüme vom Tod und seinen Gehilfen.

Aber was soll’s? Wenn Sie da waren, wissen Sie selber, wie schön es war, und wenn nicht, muss ich Ihnen nicht noch genau aufzählen, was Sie alles verpasst haben. Vielleicht gibt es ja irgendwann eine Wiederaufführung. Es wäre schade, wenn diese Großtat der Bremer Kulturszene so schnell wieder ins Land der Träume verbannt würde. Heute und hier auf jedenfall: Einen Tuschi für diesen fantastischen Slumber-Wall.

Wilfried Hippen