Lance allein am Berg

Bei der diesjährigen Tour de France sah es bisher so aus, als könne allein Roberto Heras Lance Armstrong Paroli bieten. Bei der gestrigen Etappe räumte der Texaner auch mit diesem Gerücht auf

vom Mont Ventoux SEBASTIAN MOLL

Die Frage, ob Roberto Heras ein stärkerer Fahrer in den Bergen sei als er selbst, beantwortet Lance Armstrong nur zögerlich und ausweichend. Am ersten Tag in den Pyrenäen, so der Führende der Tour-Gesamtwertung, sei sein spanischer Helfer wohl eindeutig der Bessere gewesen; am zweiten Tag sah das schon weniger danach aus – und bei der gestrigen Etappe über 221 km von Lodève auf den Mont Ventoux schließlich war Armstrong beim Schlussanstieg ganz auf sich allein gestellt – und fuhr seinem ärgsten Verfolger in der Gesamtwertung, Joseba Beloki, sieben Kilometer vor dem Ziel dennoch einfach davon. Lediglich der Franzose Richard Virenque, am Ende erfolgreichstes Überbleibsel einer elfköpfigen Ausreißergruppe, sowie der Russe Alexander Botscharow, schafften den Sturm auf den Gipfel vor dem Texaner. Für die Gesamtwertung war dies allerdings unmaßgeblich: In dieser knöpfte Armstrong Beloki weitere 1:45 Minuten ab und führt nun mit 4:21 Minuten Vorsprung.

Roberto Heras konnte sich gestern problemlos für die ab morgen anstehenden Alpenetappen schonen, wo er seinem Patron ganz bestimmt wieder wertvolle Helferdienste leisten wird – ohne ihn zu bedrängen.

Man könnten solche Absprachen als unsportlich kritisieren, so wie Stallbefehle in der Formel 1 ins Gerede gekommen sind. Doch die militärisch-hierarchische Ordnung der Mannschaften gehört zu den ureigensten Charakteristika des Radsports. Zur Legende wurde das Finale des Frühjahrsklassikers Paris–Roubaix 1996, als drei Fahrer der Mapei-Mannschaft als Erste auf die Schlussrunde im Radstadion von Roubaix gingen. Hastig wurde aus dem Mannschaftswagen in der Konzernzentrale des Sponsors in Mailand angerufen, welcher Sieger denn gewünscht werde. Konzernboss Giorgio Squinzi entschied sich für den Belgier Johan Museeuw.

„Wenn der Sport ein Spiegel der Gesellschaft ist“, sagt der Sportphilosoph Gunther Gebauer, „dann bildet der Radsport die Organisationsstruktur moderner Großkonzerne ab.“ Die Chefs solcher Unternehmen seien nur dazu da, im entscheidenden Augenblick die richtige Entscheidung zu treffen, sie zu vertreten und zu verantworten. Für alles andere hätten sie ihre Zuarbeiter.

Lance Armstrong gewinnt die Tour de France auf weniger als 200 der insgesamt 3.300 Kilometer: Im Zeitfahren und an den Schlussanstiegen der Bergetappen. Davor und danach nehmen ihm seine Co-Equipiers die Arbeit ab, kontrollieren das Feld, neutralisieren Attacken, schützen ihren Kapitän, brechen für ihn den Wind und sorgen für seine Verpflegung. Er trägt im Gegenzug die Verantwortung dafür, im richtigen Augenblick eine erfolgreiche Attacke zu setzen.

Das Helferdasein ist ein undankbares: Ihre Arbeit wird enteignet, den Ruhm streicht der Chef ein. Einen Anteil an der Siegprämie bekommen sie dafür und im Falle eines gütigen Patrons dessen Anerkennung und Dank. Mehr nicht. Trotzdem gibt es im Radsport Helfer, die diesen Posten gern und mit Stolz ausfüllen. Rolf Aldag ist so einer. Natürlich, so Aldag, hatte er zu Beginn seiner Karriere nicht das Ziel, Helfer zu werden. Aber irgendwann komme man zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten: „Ich kann alles ein bisschen, aber nichts richtig“, sagt Aldag. Sowohl in bergigem als auch in flachem Gelände kann Aldag für einen anderen nützlich sein, für größere Siege fehlt ihm hingegen die Klasse. „Es ist mir lieber, Teil der Mannschaft eines Toursiegers zu sein, als Kapitän und Zwanzigster zu werden“, entschied er deshalb.

Andere finden sich nicht so einfach mit der Helferrolle ab. Miguel Induráin mutierte nach langen Jahren vom Helfer Pedro Delgados zum Champion. Auch Bjarne Riis diente vielen Herren, darunter Laurent Fignon, bevor er das Format hatte, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Tyler Hamilton, Jugendfreund und treuer Diener von Lance Armstrong, wechselte im vergangenen Jahr von Armstrongs US-Postal Team zur dänischen Mannschaft CSC Tiskali, um endlich einmal auf eigene Rechnung fahren zu dürfen.

Auch Roberto Heras sieht in der Assistenz für Armstrong nicht die Erfüllung seines sportlichen Werdegangs. Immerhin gewann er vor dem Wechsel schon die Spanien-Rundfahrt. „Irgendwann will ich auch die Tour gewinnen“, gibt er zu.