Das Reiseziel heißt Berlin, nicht Moskau

Lieber als nach Russland fahren viele Kaliningrader in den Westen – „nach Europa“. Der visafreie Verkehr lockt auch die Moskauer

KALININGRAD taz ■ Der Kaliningrader Hauptbahnhof ist groß und leer. Hier steigt normalerweise kaum jemand ein oder aus. Es fahren kaum Züge. Kaliningrad, das frühere Königsberg, die einstige Hauptstadt Ostpreußens, ist heute eine russische Provinzstadt. Bis nach Moskau sind es 1.289 Kilometer. Die Reise ist beschwerlich und teuer, die Fahrkarten können sich die wenigsten Kaliningrader leisten. Wenn sie also schon nach Moskau oder Petersburg müssen, zum Beispiel, um sich ein Visum für eines der EU-Länder zu holen, nehmen sie die Strecke über Weißrussland. Das dauert zwar noch länger, ist aber billiger.

Vor rund einem Monat gellte ein juchzendes „Wir fahren, wir fahren!“ durch die sonst so ruhige Halle. Politiker hielten wichtige Reden, Journalisten fotografierten das historische Ereignis. Auf dem Gleis stand ein Sonderzug. Eine Umfrage unter Kaliningrader Jugendlichen hatte ergeben, dass 70 Prozent der unter 25-Jährigen noch nie Kaliningrad in Richtung Osten verlassen hat und daher Russland gar nicht kennt. Viel öfter als russische Städte besuchen sie das Baltikum, Polen oder Deutschland.

Die von dem amerikanischen Milliardär George Soros gegründete Stiftung „Offene Gesellschaft Russland“ hat nun 41.000 US-Dollar zur Verfügung gestellt. „Russlands Kinder reisen nach Russland“ heißt das Programm der Stiftung und der Gebietsverwaltung Kaliningrads. Doch nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen kennen Russland kaum. Kein Wunder, denn als Kaliningrad noch eine geschlossene Militärbasis war, brauchte eine Sondergenehmigung, wer ein- oder ausreisen wollte.

Als sich 1991 der Eiserne Vorhang hob, interessierten sich die Kaliningrader vor allem für den Westen, für „Europa“, wie sie damals noch sagten. Kurz nachdem der „Königsberger Express“ zum ersten Mal von Berlin nach Kaliningrad gefahren war, wurde die „europäische“ und damit schmalere Schienenstrecke bis zum Hauptbahnhof verlängert. Allein an der Grenze zwischen Polen und dem Gebiet Kaliningrad kam es im Jahr 2000 zu über 4 Millionen Grenzübertritten. Die meisten sind so genannte Ameisen, die mehrmals täglich die Grenze passieren.

Der visafreie Reiseverkehr nach Polen und Litauen lockt viele Russen aus den anderen Regionen Russlands an. Über die Hälfte der knapp 9 Millionen Gäste, die jährlich in die Kaliningradskaja oblast kommen, sind Russen aus Moskau, Petersburg oder Pskow.

Immer seltener hingegen kommen Touristen aus dem Westen. Denn während sich Polen und das Baltikum immer moderner und dynamischer zeigen, bleibt das von Moskau abhängige Kaliningrad im sozialistischen Einheitsgrau hängen. Nichts scheint sich zu bewegen. Und wenn doch etwas fährt – wie der Königsberger Express – dann findet auch das ein baldiges Ende. Der Express wurde vor zwei Jahren eingestellt.

Auch die Fluglinie SAS von Kopenhagen nach Kaliningrad hat man eingestellt. Danach ging auch noch die eigene Fluglinie „Kaliningrad-Avia“ in Konkurs. Und die mit großem Pomp eröffnete Fähre zwischen Petersburg, Kaliningrad und Hamburg befördert bis heute nur Frachten, keine Passagiere. Viele EU-Staaten durften bis heute keine Konsulate in Kaliningrad eröffnen. Für die Kaliningrader schließen sich die Grenzen wieder. GABRIELE LESSER