„Die schwierigen Fälle kommen noch“

Die Suche nach Zwangsarbeiter-Dokumenten muss auf Archive in früheren deutschen Gebieten ausgeweitet werden, fordert Lothar Evers

taz: Was wurde bei der Entschädigung bisher erreicht, wo hakt es?

Lothar Evers: Die gute Nachricht lautet, dass 867.000 der Exzwangsarbeiter die ersten Rate erhalten haben.

Wo sind die Haken?

Es geht um das gesetzlich vorgeschriebene zweiratige Auszahlungssystem. Rund 4,5 Milliarden Euro können verteilt werden. Das ist die strikte Grenze, weil man in Deutschland sehr früh der Industrie die Weichenstellungen bei den Verhandlungen überlassen hat. Bei einer unbekannten Anzahl von Antragstellern kam man dann – scheinbar logisch – zu zwei Raten, um zu verhindern, dass kein Geld mehr da ist, obwohl noch Ansprüche existieren. Dieses Verfahren ist bei Transferzahlungen völlig unüblich. Stellen Sie sich bitte vor, man würde beim Mutterschaftsgeld erst mal eine Anzahlung leisten. Was man einer 30-jährigen Mutter nicht zumutet, mutet man einem 80-jährigen ehemaligen Zwangsarbeiter zu. Nun werden tausende die Auszahlung der zweiten Rate nicht mehr erleben.

Hätte es denn Alternativen zur Ratenzahlung gegeben?

Österreich hat diese Regelung vermieden. Dort gilt: Wer im KZ Sklavenarbeit machte, bekommt 7.500 Euro. Wenn sich später herausstellt, dass sich ein paar KZ-Häftinge mehr melden – nun, das kann doch nicht das Problem sein.

Wird die Auszahlung in gleichem Tempo weitergehen?

Nein. Denn die Partnerorganisationen haben ja zuerst an diejenigen Zwangsarbeiter ausgezahlt, die registriert sind, deren Dokumente bereits vorliegen. Jetzt kommen die schwierigen Fälle. Für diese große zweite Gruppe existiert bislang keine Strategie. Wir haben als notwendigen Schritt die Nachweissuche etabliert. Wenn in irgendeinem deutschen Firmenarchiv ein Dokument existiert, dann finden wir es. Diese Suche muss ausgeweitet werden auf Archive, die in früher zu Deutschland zugehörigen Gebieten liegen. 30 bis 40 Prozent der restlichen Antragsteller waren unstreitig als Zwangsarbeiter in Deutschland, verfügen aber über keine Nachweise. Um sie geht es jetzt.

Was kann konkret getan werden?

Wir müssen erreichen, dass die deutschen Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigten, tatsächlich ihre Archive öffnen. Die Freiwilligen, auch die Azubis der betroffenen Firmen, sollen Zugang zu den Kellern erhalten, wo sich die alten Dokumente stapeln. Eine Hand voll Leuten unseres Bundesverbandes könnten eine solche Arbeit nie leisten.

Sehen Sie sich den Haushalt der Stiftung an. Für Kontrollteams und für das Wirtschaftsprüfungsunternehmen wird viel Geld ausgegeben, für Recherche bisher zu wenig. Wenn die Partnerorganisationen wegen des Fehlens von Nachweisen einen Antrag abgelehnt haben, muss es bei der Stiftung eine Art Revisionsgruppe geben, die nochmals nach solchen Nachweisen sucht. Die Stiftung müsste sich dieser Anstrengung mit der gleichen Verve unterziehen, mit der sie ihre Kontrollfunktion ausübt. Es muss umgeschaltet werden.

Wie beurteilen Sie die Arbeit der Kontrollteams?

Sie haben relativ wenig Unregelmäßigkeiten festgestellt. Dafür haben sie ziemlich viel Geld ausgegeben. Ich will nicht sagen, dass es weder Betrug noch Unterschleif gibt. Aber das herauszufinden übersteigt die Möglichkeit dieser liebenswürdigen jungen Leute, deren wesentliche Qualifikation in ihrer Zweisprachigkeit liegt. Der entscheidende Punkt bleibt: Wie hilft man denen, die verzweifelt sind, weil sie keinen Nachweis erbringen können? INTERVIEW:
CHRISTIAN SEMLER