Ein kritischer walisischer Spiritualist

Rowan Williams wird Erzbischof von Canterbury und damit Oberhaupt von 70 Millionen Anglikanern weltweit

Vielleicht wird Tony Blair seine Entscheidung eines Tages bereuen. Der britische Premierminister bestimmte am Dienstagabend den 52-jährigen Rowan Williams zum neuen Erzbischof von Canterbury. In Großbritannien wird das Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche von der Königin auf Vorschlag des Regierungschefs ernannt. Blair sagte, er habe Williams wegen seiner „Klugheit, seines intellektuellen Verstandes und seiner tiefen Spiritualität“ ausgewählt.

Williams tritt sein Amt zwar erst im Oktober an, aber er hat sich gleich nach seiner Ernennung zu Wort gemeldet. Während Blair im Unterhaus sagte, im Falle eines Angriffs auf den Irak werde er Beweise vorlegen, dass Saddam Massenvernichtungswaffen horte, warnte Williams vor einem Krieg gegen den Irak ohne Absegnung durch die UNO. Er sagte, er wolle zur Diskussion beitragen, bevor irgendwelche Entscheidungen getroffen werden. Vor kurzem hatte Williams eine „leichte Enttäuschung“ über New Labour geäußert, weil es der Partei an „Mut und Initiative“ mangele.

Williams’ Ernennung wurde nicht nur in konservativen Kreisen Großbritanniens, sondern auch in den USA mit Skepsis aufgenommen. Der 104. Erzbischof von Canterbury wird Oberhaupt von 70 Millionen Anglikanern weltweit sein, darunter viele US-Politiker, die der Episkopalkirche angehören. In einem offenen Brief an Blair drückten Bischöfe aus England, den USA und der Dritten Welt ihr Befremden über die liberalen Ansichten des neuen Kirchenoberhaupts aus.

Williams setzt sich für weibliche Priester und für homosexuelle Geistliche ein. Die Angriffe der USA auf Afghanistan nach den Anschlägen vom 11. September bezeichnete er als moralisch fragwürdig. Früher, als sein dichter Bart und die langen Haare noch nicht grau waren, sah man ihn oft auf Friedensdemonstrationen. 1986 ist er bei einer solchen Demonstration vor einem US-Luftwaffenstützpunkt in England verhaftet worden.

Die Ernennung von Williams ist ein geradezu radikaler Bruch mit der Tradition der anglikanischen Kirche. Er ist der jüngste Erzbischof seit 200 Jahren, der erste seit dem 19. Jahrhundert, der zwei kleine Kinder hat, und der erste seit der Trennung von der römisch-katholischen Kirche im 16. Jahrhundert, der nicht aus England stammt.

Williams wurde 1950 im walisischen Swansea geboren. Mit 36 Jahren wurde er der jüngste Theologieprofessor der Oxford University. 1992 beförderte man ihn zum Bischof von Monmouth und 2000 zum Erzbischof von Wales. Er hat zahlreiche Bücher zur Spiritualität geschrieben, das erste im Alter von 29 Jahren.

Williams hofft, dass er der Kirche im 21. Jahrhundert neue Impulse geben kann. Nur drei Prozent der Briten sind regelmäßige Kirchgänger. Die Kirche steckt finanziell in der Klemme, weil nicht genügend Spenden eingehen – vor allem aber weil sie sich an der Börse verspekuliert hat.

Neben seiner Warnung vor einem Angriff auf den Irak kritisierte Williams am Dienstag die Konsumgesellschaft, den Unterhaltungskonzern Walt Disney, Kinder-Talentshows und Computerspiele mit Gewaltdarstellungen. Für die Sun hat er sich damit bereits disqualifiziert. „Er hat Ussama Bin Laden verteidigt und Mickey Mouse angegriffen“, schrieb das Boulevardblatt. „Kein guter Start für einen Mann, den wir eigentlich unterstützen wollten.“ RALF SOTSCHECK