Steinerne Streicheleinheiten für Hertha

Ein schwäbischer Kunst- und Musikabend mit der endzeitlich gestimmten Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin

Schärfste Ausweis- und Gesichtskontrollen halten mich nicht davon ab, einem landsmännischen Schwabenabend in der Berliner Mohrenstraße beizuwohnen. Malerei und Tonkunst aus dem Ländle sind angesagt. Im Lichthof des neu eröffneten Justizministeriums höre ich drei Stunden lang die Steine klingen, singen und springen. Drei Jazzer von der Schwäbischen Alb haben tonnenschwere Säulen aus Porphyr und Travertin aufgebaut, die sie nun mit Wasser überschütten und mit bloßen Händen berubbeln und bereiben, bis geisterhaftes Wimmern und heftiges Vibrato zu erleben sind. 200 der 300 versammelten Großstädter greifen unwillkürlich zu ihren Handys, wichtige Anrufe erwartend.

Vor der aufgeschlossen lauschenden Justizministerin geht der Hauptakteur der Steinmusiker, ein Mittvierziger mit graumelierter Marxfrisur, theatralisch auf die Knie und animiert sein meterhohes, kammartig aufgesägtes Lithophon durch hohepriesterlich anmutende Streichelbewegungen zu sphärischem Getöns. Sein Kompagnon tanzt auf Säcken mit Neckarkieseln, schlägt kindskopfgroße Kalksteine mit hellem Knall über seinem filzbekappten Haupt gegeneinander. Mich fröstelt, und ich schüttele vorsichtig den Champagner im Glas, um sicher zu gehen, dass er noch nicht gefroren ist. Eine Gerölllawine aus süddeutschen Applaus beendet den offiziellen Teil des Abends.

Die energische Hertha Däubler-Gmelin steuert neben mir mit kraftvollem Schritt ein italienisches Restaurant in der Leipziger Straße an. „Oigentlich dürfet mir des net, einfach so irgendwo hi gehet!“, sagt sie in Richtung Gefolge, und ich nicke betrübt. Die Regierung ist ja so bedroht. Die Leibwächter preschen vor und filzen den Laden auf Sprengstoff. Endlich wird Entwarnung gegeben. Dem Patron platzen vor Stolz die Nadelstreifen vom Anzug. „Du, des isch ja d’ Herrda!“, raunt’s im Raum. Flugs entsteht aus zusammengetragenen Tischen eine lange Tafel für den ministeriellen Tross. Spätestens jetzt ist der Laden fest im Schwabenhändle.

Da sitze ich nun in einer illustren Runde aus Großindustriellen und Bürgermeistern, Komponisten, Musikern und Malern sowie der Ministerin und bemühe mich bei Saltimbocca à la Romana, die Erinnerung an die fernen Neckargestade wiederzubeleben. Doch nie für möglich gehaltene schwäbische Dekadenz bestimmt das Gespräch. In seltener Einmütigkeit verwirft man die schwäbische Wirtschaft als hoffnungslos rückständig, trinkt auf den unaufhaltsamen Siegeszug des Morgenlandes, berichtet sich von der neuesten fernöstlichen Glanzleistung, den deutschen Transrapid preisgünstig kopiert zu haben, noch bevor er überhaupt verkauft worden ist. Eine von herrlichem Montepulciano untermalte Nachsintflutstimmung macht sich breit.

Da der Untergang des Industriestandorts Süddeutschland eine vom Schwabengott selbst beschlossene Sache zu sein scheint, wendet sich alles dem Steinguru zu, der nahe der Ministerin sitzt und gerade über seine Beziehung zum Stein philosophiert. Er erzählt steinerweichend von den Streifzügen durch die Kalkbrüche der Schwäbischen Alb, von den seelischen Auszehrungen, von den Grenzen, an die er oft gehen muss.

Beim Leuchten in den Augen der Ministerin wird mir mulmig. Es passt so schön zum weltendlichen Tenor des Schwabenabends. Hat sie am Ende gar die Steingurus aus wahltaktischen Gründen nach Berlin geholt? Sollten die heimatlichen Lithophone mittels Ultra- und Infraschall Land und Bund drohendes Unheil zerblasen? Die Leibwache schnüffelt vor dem Abgang nach kompetenten Heckenschützen im Gebüsch, während mir in endloser Wiederholung zwei Zeilen allerschwäbischsten Hölderlins durch den Kopf sintern: „O Hoffnung! holde! gütiggeschäftige! … Wo bist du?“ TOM WOLF