Reale Virtualität

Krise des Kapitalismus (1): Auch wenn die Berg- und Talfahrten an den Börsen nicht zwangsläufig zu einer anhaltenden Rezession führen, sie ist wahrscheinlicher geworden

Im Boom haben selbst seriöse Firmen auf Teufel komm raus investiert, weshalb sich nun die Pleiten häufen

Stets übel gelaunt, nichts als miesepetrig – so erschienen die Kritiker des Kapitalismus in den Zeiten der Hausse. Sie störten stets die gute Stimmung, indem sie von „Spekulationsblasen“ redeten, die sich nicht mehr nur über der „Realwirtschaft“ erheben, sondern dieselbe immer mehr unter sich begraben. Auf der anderen Seite feierten die Stichwortgeber der New Economy den nicht enden wollenden Boom und das Feuerwerk an den Börsen schon als Symptom einer völlig neuen, ewig krisenfreien Wirtschaft.

Die gute, wirkliche Produktion vis-à-vis der bösen, virtuellen Welt der Finanzmärkte: das war das Leitmotiv dieser lauwarmen Kapitalismuskritik, die Ende des vergangenen Jahrzehnts immer lauter wurde. Nun, nach der praktischen Selbstkritik des Kapitalismus, die einige rauchende Ruinen hinterließ und seit Ende vergangenen Jahres die Anleger an den wichtigsten Börsen im Schnitt um ein Drittel ärmer machte – nun taucht also das gleiche Motiv von der anderen Seite wieder auf.

Es entwiche ja nur „die Luft aus der Spekulationsblase“, ist da etwa in der gestrigen FAZ zu lesen, was zwar auch Grund zur Sorge sei, da sehr wohl „Gefahren für die reale Wirtschaft“ lauerten, wenn die Kurskorrektur übertrieben werde. Doch wenn grell vom „Weltbankrott“ (Die Zeit) geschrieben, düster „Weltuntergangsstimmung“ (FAZ) konstatiert wird, dann ist da im Grunde immer bloß von der Hysterie der anderen die Rede, von den ignoranten Herdentieren der Spezies „Homo Investor“, die natürlich nicht die der Leitartikler ist. Denn die mahnt zur Besonnenheit: Nur keine Panik.

Nun wissen wir freilich spätestens seit Keynes’ bahnbrechenden Arbeiten, dass Investitionen immer von Erwartungen bestimmt sind und zudem abhängig vom Grad des Vertrauens, dass sich diese Erwartungen auch realisieren mögen. Das Engagement auf den organisierten Investmentmärkten ist, wie der britische Ökonom formulierte, damit auch immer abhängig von der „Massenpsychologie einer großen Zahl ignoranter Individuen“. Um die Aussichten realistisch einschätzen zu können, müssen wir immer „die Nerven und die Hysterie“ der Investoren in Rechnung stellen; auf den Finanzmärkten schließlich sähe jener Investor schnell alt aus, der sich allein auf seine eigenen Erwartungen beschränke und nicht die Erwartungen der anderen mitkalkuliere. Selbst im besten Falle ist das Geschehen auf den Weltbörsen also bestimmt von der Antizipation von Erwartungen in Erwartungen – und so weiter: eine Abstraktionsleistung der dritten, vierten, fünften Potenz, über den Daumen gepeilt. Um auf unsere panikresistenten Leitartikler zurückzukommen: Ein gutgläubiger Investor würde sich möglicherweise bald für deren gute Ratschläge bedanken, denn anders als sie muss er selbstverständlich die Panik der anderen als sehr reale Realität in seine Abwägungen einbeziehen.

Noch schwerer womöglich wiegt in unserem Zusammenhang: Die feinsinnige Trennung zwischen realer Produktion und virtuellem Geschehen an den Börsen funktioniert so längst nicht mehr. Sie gilt nicht einmal für die abstrakten Finanzinstrumente auf den Devisenmärkten, wo tatsächlich relativ losgelöst von der Realwirtschaft Wetten auf die Zukunft abgeschlossen werden, und zwar beispielsweise deshalb, weil die Gewinnversprechen in diesen Sphären auf die Renditeerwartungen in der Realwirtschaft ausstrahlen und deren Horizont verändern.

Diese Trennung gilt aber noch viel weniger für jene Bühne, auf der sich Realwirtschaft und Finanzmärkte treffen: für die Aktienmärkte. Im Boom haben auch die biedersten Firmen, im Vertrauen auf schier unbegrenzten Kapitalzufluss, investiert auf Teufel komm raus, weshalb jetzt nicht nur die Spekulationsblase platzt, sondern sich auch die kapitalen Pleiten häufen. Wer glaubt wirklich, das eine hätte mit dem anderen im Grunde nichts zu tun?

Gleichzeitig sind auch Investitionen in die Seifenblasen-Ökonomie reale Investitionen, die Arbeit, Konsum, Innovation generieren. So war, wie der als „Ober-Guru“ des Informationszeitalters gefeierte Soziologe Manuel Castells formuliert, auch die Dotcom-Seifenblase der Neuen Märkte eine „produktive Seifenblase, die vor dem Platzen das Wirtschaftswachstum in der ,realen‘ Internet-Wirtschaft beschleunigt und so teilweise die Nebenwirkungen ihrer Spekulationsspirale wieder aufhebt“. Wer wollte den Programmierern, Webdesignern und IT-Dienstleistern in den lange hochfliegenden Net-Businesses denn ins Gesicht sagen, was sie getan, erfunden, ertüftelt haben, sei nur „virtuell“ gewesen, und ihr harter Aufschlag habe kaum „reale“ Folgen?

Nun ist schon wahr: Die Berg- und Talfahrt von Dow Jones, DAX & Co. führt nicht notwendigerweise zu einer schweren und lang anhaltenden Rezession, sie macht sie aber wahrscheinlicher. Nicht nur, weil eine verunsicherte Bevölkerung sich in ihrem Konsumverhalten einschränken könnte, sondern auch weil, beispielsweise, die amerikanischen Arbeiter und Angestellten, die Mittelklasse, die ihre Ersparnisse, Rücklagen und Rentenvorsorge in Fonds und Aktienpaketen anlegten, ihre Gelder zumindest teilweise abziehen könnten, so dass diese den Firmen nicht mehr als Kapital zur Verfügung stünden. Folge: weniger Investition, weniger Innovation, weniger Wachstum.

Die Trennung zwischen realer Produktion und virtuellen Märkten funktioniert längst nicht mehr

Dass diese Kausalitätsketten wesentlich psychologisch bedingt sind und die unmittelbaren Auslöser, die Vertrauen zerstörenden Bilanzierungspraktiken amerikanischer Multis, möglicherweise die ganze Aufregung nicht wert seien, ist zwar ein oft gehörtes, aber ziemlich bedeutungsloses Argument: Es ist schließlich das Charakteristikum eines chronisch instabilen Systems, wie es der global strukturierte Kapitalismus ist, dass ein an sich belangloser Vorgang, ja ein falsches Wort den Auftakt zur großen Katastrophe geben können.

Vollends drollig sind die schönen Vorschläge unserer Ideologen des Börsenlebens, wie denn die gegenwärtige Malaise zu heilen sei: Nur ja keine staatlichen Regulationen der Finanzmärkte, denn mehr Transparenz, totale Einsicht in die wirtschaftlichen Daten von Unternehmen würden reichen. Mag sein, dass mancher Anleger nicht wusste, wie Enron oder WorldCom wirklich dastehen – und in diesem Wissen anders gehandelt hätte. Doch wussten die Investoren, die in Russland oder Südostasien ihr schnelles Geld machen wollten, nicht, dass Einlagen in Risikomärkten riskant sind?

Nein, auch totale Transparenz würde das Betriebsklima des globalen Kapitalismus nicht verändern. Herdentrieb, Panik, Hysterie bestimmten die Finanzflüsse weiter. Der Nervenkitzel, länger als die anderen in Märkten mit riskanter, aber hoher Rendite zu bleiben, in der stillen Gewissheit, den richtigen Augenblick zum Ausstieg schon zu erraten, würde sie weiter prägen, und sie würden in Schwung gehalten durch den eigentlichen, inneren Antrieb des Homo economicus: das Begehren, aus Scheiße Gold zu machen. ROBERT MISIK