Magisches Auge

Nacktheit ist ein fragiler Zustand. Doch schreit er deshalb nach Regelungsbedarf? Schluss mit dem Freikörperkulturkampf!

von REINHARD KRAUSE

Zwei Wochen ist es her, da wurden in der bayerischen Hauptstadt die Sturmglocken geläutet. Die Nachrichtenagentur AFP meldete: „München besorgt wegen Wegbleiben der Nackten im Englischen Garten“. Quel horreur! Man hatte sich so gewöhnt an den Gedanken, dass in Deutschlands dauerschwarzem Bundesland wenigstens eine kleine Enklave existierte, in der zwar einerseits tausend Drogentode gestorben wurden (wer erinnert sich nicht an die vielen verlorenen Bürgerkinder, deren Ableben im Englischen Garten der ZDF-„Kommissar“ nachzugehen hatte?), wo aber zugleich auch eine beneidenswerte Lässigkeit anzutreffen war. Durch den Englischen Garten wehte ein geradezu skandinavischer Hauch von Selbstvergessenheit.

Bezeichnenderweise scheinen nicht die Münchner selbst traurig darüber zu sein, dass in den Parkanlagen – wie es in der Meldung hieß – nunmehr „nur noch Alt-68er“ herumliegen, wie Gott (oder wer auch immer) sie schuf. Viel schlimmer: Der Schwund an zur Schau getragener Haut ist schlecht fürs Geschäft! Parkchef Thomas Köster wird zitiert mit den Worten: „Viele asiatische Gäste kommen extra, um die Nackerten zu sehen.“ Und denen wird nun eine lange Nase gedreht, schlimm, schlimm. Nicht dass wir je angenommen haben, ausgerechnet die stets kontrolliert wirkenden asiatischen Touristen hätten einen Blick oder gar ein Faible für solch dionysische Phänomene.

Wird Deutschland nun langsam wieder zugeknöpft? Schreitet die Amerikanisierung auch in diesem Feld voran? Oder zeigt sich im Absterben der Münchner Nacktenkolonie eine kategorische Absage an den neuen deutschen Osten? Sind wir nicht seit dem Fall der Mauer mit Berichten entsetzter Westdeutscher bombardiert worden, die von der eklatanten Bereitschaft ihrer Brüder und Schwestern im Osten kündeten, sich allenthalben bis auf die Haut zu entblößen? Erst mochte niemand mehr so recht Sozialist sein, nun sterben auch noch die Nudisten aus!

Die Erklärung hat durchaus etwas für sich. Denn die so genannte Freikörperkultur – so befreiend, belebend und vor allem: gesund! sie auch sein soll – hat, zumindest in ihrer organisierten Form, etwas Überkontrolliertes. Der entkleidete Mensch, er ist unterschiedslos, er ist schutzlos, er ist „gleich“. Und deshalb darf sich, wo Menschen nackt sind und nackt sein wollen, auch meist niemand ausschließen. Sonst ist er der Außenseiter, vielleicht gar der Spanner, mindestens aber der Spielverderber. Puh, wie unangenehm. Kinder, die von ihren Eltern an einen Nacktbadestrand geschleift und dort – „Wer wird sich denn so anstellen!“ – zum Abwurf aller Hüllen genötigt wurden, wissen von solcher Art behaupteter Ungezwungenheit ein böses Lied zu singen.

Die organisierte Freikörperkultur ging früh und durchaus freiwillig in die Falle der Gleichmacherei. Historisch blieb ihr kaum eine andere Wahl. Wer sich vor hundert Jahren und textilfrei dem Licht und der Luft darbieten wollte, stand unter dem Generalverdacht der Lüsternheit – dieser nicht ganz von der Hand zu weisende Vorwurf musste von den Propagandisten der Freikörperkultur im Keim erstickt werden.

Im Stande der Nacktheit, so wurde erklärt, kehre der Mensch zu seinen natürlichen, noch nicht durch zivilisatorische Wirrungen angekränkelten Wurzeln zurück. Tatsächlich erbrachte die Phototherapie späterer Tage den Beweis, dass durch die großflächige Aufnahme von Sonnenlicht die Ausschüttung schläfrig machenden Kortikomelanotropins im Hypothalamus gedrosselt wird und gleichzeitig „Glückshormone“ freigesetzt werden.

Allerdings sollte dieses körperliche Glück tunlichst keine erotischen Untertöne bergen. Und so wiesen die Veranstalter von Nacktkulturevents mantraartig auf die garantiert unsinnliche, dafür desto reinere geistig-seelische Gestimmtheit des Menschen hin. War nacktes Turnen und Tanzen nicht fast ein religiöser, ja heiliger Akt, ein Hymnus auf die irdische Existenz, eine Art Sonnenkult? Noch heute zeigt das Signet des Deutschen Verbands für Freikörperkultur eine ekstatische Nackte, die – umrahmt von einer Art magischem Auge – vor tief stehender Sonne jubilatorische Sprünge vollführt. So bar jeder Erotik diese körperlichen Vergnügungen auch sein sollten, die frühen Vorreiter des Nudismus – wie etwa auf dem Monte Verità – achteten peinlich darauf, dass Männlein und Weiblein in getrennten Lichtbadearealen kurten. Man weiß ja nie …

Die aus der Prüderie der Zeit geborene Betonung des Ideellen mündete fast zwangsläufig in eine Art Gesundheitsideologie. Wer bei den Nudisten mittat, der war auch Vegetarier, der ertüchtigte seinen Körper, der war Teil einer auch gesellschaftlich verstandenen Reformbewegung – der war auf dem Pfad zu Höherem. „Nacktheit“, formulierte Magnus Weidemann Mitte der Zwanzigerjahre, „ist Wahrheit, weiter nichts!“

Weiter nichts? Hier darf ruhig einmal laut gelacht werden. Denn die nackte Wahrheit scheint viele Gesichter zu haben: Der Streit um die reine Lehre zerrt auch an den Jüngern adamitischer Ursprünglichkeit. Die Fraktionen der Nudisten und der Naturalisten etwa gönnen sich gegenseitig nicht den Sonnenstrahl auf dem blanken Popo.

Eine wunderbare Zusammenfassung der bis heute virulenten Querelen liefert der Reisejournalist Helmut Rupp: „Mit Nudismus ist das Nacktsein um der Nacktheit willen gemeint. Ein Nudist hält sich durchaus auch nackt in der eigenen Wohnung auf, was für einen Naturisten sehr ungewöhnlich wäre. Die deutsche Freikörperkultur (FKK) ist im Prinzip Nudismus mit einem starken Gemeinschaftsaspekt, der sich in verschiedenen FKK-Vereinen und Anlagen niederschlägt. Beim Naturismus geht es um mehr als nur die körperliche Nacktheit, denn Naturisten glauben an die erzieherische und harmonisierende Wirkung von Nacktheit in der freien Natur. Ziel ist das Leben in Harmonie mit den Erscheinungen der Natur. Der echte Naturismus steht in deutlicher Distanz zu ‚Bierbäuchen in FKK-Clubs‘.“ Brüderliche Gleichheit und Einigkeit unter Nackten? Weit gefehlt!

Bei so viel Überbaugemetzeln ist es kein Wunder, dass der organisierten Nacktkultur mittlerweile die Mitglieder davonlaufen. Die Zahl der in Vereinen zusammengeschlossenen Nackten fiel deutschlandweit von 150.000 zu Beginn der Siebzigerjahre auf schlappe sechzigtausend am Ende der Neunzigerjahre. Und das trotz der staatlichen Einswerdung mit dem Volk der begeisterten Nackten im Osten.

Der abrupte Übergang von Nacktheit zur Bedecktheit erweist sich als Stolperstein der FKK-Bewegung: Wenn es um die Blöße geht, kann nicht einfach jeder nach seiner Fasson selig werden. Da schimpfen drüben Westler über die Konfrontation mit nackten Einheimischen an den Stränden des deutschen Ostens, und hüben jaulen gestandene FKK-Kader auf, dass sie sich mittlerweile selbst auf Vereinsplätzen zunehmend mit bekleideten Jugendlichen herumschlagen müssen. Jeder fühlt sich ausgegrenzt.

In puncto ideologischer Entfrachtung scheint der Osten (noch) einen Vorsprung zu besitzen. Dass die ehemaligen DDR-Bürger nach der Wende zwar zunächst auf ihre heimischen Gurken (und ihre Sozialisten) pfiffen, nicht aber auf ihre Badegepflogenheiten, ist vor allem ein Zeichen höchster Produktzufriedenheit. Dass sich im Westen die Reservate selbst verordneter Nacktheit leeren, dürfte hingegen eher ein Beleg dafür sein, dass die neuen Abstinenzler nicht mehr Teil einer reichlich angegrauten Jugendbewegung sein wollen, die immer noch so tut, als könne sich in bloßer Blöße eine Gemeinschaft realisieren.

REINHARD KRAUSE, 40, ist taz.mag-Redakteur. Wirklich grässlich findet er nur Stringtangas