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Vergessenes Lichterfelde

An der Grenze zwischen der DDR und Westberlin befand sich einst die „US-Geisterstadt“ Lichterfelde. Wo Soldaten Straßenkampf probten, kriechen nun Eidechsen. Ein Streifzug durch die Nichtslandschaft

von THOMAS MARTIN

US-Geisterstadt, was soll das sein? Halloween? Ground Zero vielleicht? Als ich sie zum ersten Mal sah, war wirklich nichts da. Weites Feld und Raum genug für Projektionen. Kein Spukschloss, keine Mauern irgendwelcher Häuser überhaupt. Bis auf hartnäckigen Betonfußboden ist hier nicht viel zu finden, von Vergangenem nicht mehr als Spuren eines Künftigen. US = „Unsre Scholle“, Kolonie Zukunft?

Geisterstädte, das muss Krieg bedeuten, Pest oder Ramallah. Oder Berlin. Im Norden das Geisterviertel Hubertus zum Beispiel, das im Kalten Grenzkrieg zwischen Hohen Neuendorf und Frohnau zum Urwald verkam, von durchnummerierten Kastanien bevölkert. Franziska-, Ute-, Rosamunde- und Elfriedestraße. Bürgersteige, Badestelle, Straßenschilder. Hauseingänge, zwei Stufen hoch in den Wald.

Hier im Süden nicht die Spur davon. Nur Land. Oft ist die Landschaft das Entscheidende. Hier ist sie es in jedem Fall. Wer Landschaft als abgeschlossene Geländeeinheit bezeichnen möchte, wird hier (zu Teilen) recht bekommen. Rein kommt er jedenfalls nicht, wenn er nicht einbricht. Die etwa 1,5 Kilometer lange Südbefestigung ist die Stadtgrenze zu Brandenburg und war 29 Jahre lang Staatsgrenze der Deutschendemokratischen zur Selbstständigen Politischen Einheit Westberlin.

Selbstständig gilt hier noch immer. Wenn die Geisterstadt auch Eigentum der Hauptstadt ist, ist sie doch so vergessen, dass sie „autonom“ zu nennen nicht verkehrt ist: Lichterfelder Enklave, von Gasag-Pipeline, Gebüsch und Maschendraht umgeben. Was Zäune angeht, muss der Sport hier Löcherschneiden heißen bzw. -stopfen. Das Flickwerk lässt auf hohe Besucherfrequenz schließen. Oder Protest, der nach drei Jahrzehnten Todesstreifen, Mauerpfosten, Postenweg sich nun gegen jede Absperrung richtet. Mannshohe Schlitze im drei Meter hohen Drahtgeflecht Osdorfer Straße Ecke Rieselfelder sind leicht zu passieren.

Als Erstes trifft man auf ausgiebig zertretene Pfade und breit gelatschte Pferdescheiße. Leben muss es hier geben. Davon zeugt auch „Fabians Garage“, die allerdings nur auf Beton gemalt zu besichtigen ist. Weißer Schatten sozusagen. Ein schön geschwungener Hindernispark, der von sadistischen Fahrprüfern ersonnen sein muss oder von Kindern. Rache am Beton wäre auch ein Motiv. Lange kann der nicht mehr widerstehen, nicht mit den klaffenden Krakeleen, die sich zwischen den Teernähten wie Krampfadern ausbreiten. Moosflechten. Schneckenschleimspuren. Weiter.

Außer Schneckenhausruinen findet sich längs der Betonzeile nichts. Aber das Licht! Wenn der Sommer ohne Frühling den Winter anfällt. Wenn der Herbst die kalte Klarsicht streut. Fehlt bloß das Laub. Sonneneinfall wird hier nur dürftig von schüchtern ausschlagenden Wipfeln gebremst und nichts sonst. Nichtslandschaft. So sehr nichts hier, dass die harten Restkonturen an Hiroschima mahnen. (Wie kann ich meinen Belichtungsmesser zum Geigerzähler umbauen?) Von Menschenhand kommt die Birkenschonung dort drüben ins Bild. Könnte ein Vorgarten gewesen sein oder werden, das Pappelwäldchen nebenan Ministergarten.

Hier regiert niemand. Hier können Raumfähren einfliegen. Air Force One, warum nicht, dann hätte US einen Sinn. Die symmetrisch angelegte Hügelkette dort könnte Scharfschützenstand sein. Hinter den Hügeln ein Gullydeckel, US-Abschied, von deutscher Hand kommentiert: „Fuck to Nazis to the begin!“, „HEIL!“

Weiter. Die Senke – Folge einer Erdabsenkung oder Bombeneinschlag, wer soll das wissen? – voller Müll. Der dort vielleicht: ein Herr in Traningsdress mit blitzweißem Hund. Tach, suchen Sie was? Wir? Nee, eigentlich nich. Oder doch!? Ja, vielleicht können Sie uns sagen, was das hier mal war? Kann er. Gerne sogar: Ja wissen Sie, das war mal Militärgelände. US-Army. Ah ja. Die haben Manöver gemacht, eine Stadt hatten die hier, Straßen, Häuser, Kreuzungen, Fabriken so und Gleisanlagen. Haben die alles gestürmt.

Ostberlin im Maßstab eins zu anderthalb. Ich selbst hab das natürlich nicht gesehen. Niemand, durfte ja niemand. Bevor die Amis das freigegeben haben, haben sie alles planiert. Da sehn Sie: Panzerketten. Und wissen Sie was! In den Neunzigern sollten hier die Abgeordneten hin. Kaum zu glauben, aber wahr: Bundeswohnungen. Villenstadt am Stadtrand. „Band des Bundes“ hat aber gewonnen. Lichterfelde war da für den Bund wohl zuweit draußen. Oder verseucht, wer kann das wissen?

Foto vielleicht? (Hat er mit sich, mit Hund oder ohne, nicht genehmigt. Bleibt Zeitzeuge im Off.) Aber wissen Sie was: Ich hatt ja eigenes Interesse gehabt. Nach der Bundespleite sollte das ne Gartenstadt draus werden, autofrei! Ich hab mich beworben, andere mit, leider nicht genug. Grad so viel Bewerber wie Häuser hätten hinkommen sollen, das hat dem Bauherrn nicht gereicht. Vorstadt ohne Straßen, ohne Auto vorm Haus, wer will das? Schönes Projekt. Nu baut hier in nächster Zeit keiner mehr was. Gut genug für die Viecher, na dann. (Ab, dem Hund hinterher.)

Vornehm traben zwei Damen vorbei. Reiten, reiten, reiten. Pferdeäppel fallen lassen und Scheelblicke dazu. Eine zeigt mit der Reitgerte wohin: Da lang gehts raus! Hufeisenklapperndes Auf-und-davon. Zurück bleibt der Wind in den Ästen der Bäume, die keine zehn Jahre gebraucht haben, um den Beton zu Humus zu machen. Im Norden die Drillingstürme der Bewag, Kraftwerk Lichterfelde. In der Sichtachse die schön gewachsne Krüppelkiefer, könnte auch Bonsai im Bundeskanzleramt sein. Wie die Sonne schon brütet. Lockt Eidechsen an. (Eidechsen essen Schnecken, aber wer isst die Eidechsen auf?) Zweite Hügelkette, von Büschen im Blütenstand besetzt. Musste wohl als Wehranlage herhalten. Das Tor dort sieht aus wie abgebrochne Brückenpfeiler, die Wälle rechts und links leicht gebogen. Wenn du dich umdrehst, siehst du, wo du stehst: im Kessel.

Stadtmitte 1 : 1,5 und ringsum Lichterfelde original. Da hängt ein Schienenstrang in der Luft, nur noch vom Prellbock gehalten, der nichts und niemanden verprellen muss. Oben, im Erlengestrüpp, kann man sich ausruhen. Hat sich jemand unter freiem Himmel mit Einkaufswagensessel und Wellblechsofa eingemietet. Lagerfeuergrill zu Füßen und vor Augen die freieste Südsicht der Stadt. Das pastellfarbene Land hinter der Mauer. Kannst du bis Baruth gucken oder Doberlug-Kirchhain. Wenn du die Augen zumachst bis Teneriffa. Von hier oben aus, endlich, erschließt sich das netzförmig angelegte Terrain. Betonpisten, Fährten wie Abgüsse in getrocknetem Schlamm. Unterführung, Überführung, Schlagloch um Schlagloch. Hier muss der Feldherrnhügel gewesen sein. Soll man sich hier niederlassen? Adresse: US-Geisterstadt. Nach aktuellen Plänen: Weißer Fleck. Die Armee hat ihren Fahnenmast stehen gelassen, die Spitze nutzt ein Amateurfunker, der uns wer weiß von wo im Visier hat. Runter und weiter.

Der Beton lässt weiter westwärts stark zu wünschen übrig. Löcher, die so tief nicht blicken lassen, wie sie sind. Natur obsiegt, auch hier an der Kreuzung. Rechts oder links jetzt, wo lang? Hier waren wir schon mal. Im Kreis gegangen, das war’s. Nein, das war’s nicht. Hufspuren links ins Unterholz führen weiter. Zunächst in sumpfiges Gelände. Nach Plan stoßen die Rieselfelder hier an, gedüngt von Steglitz-Zehlendorf und Zossen. Trauerweiden überall, Drainagegräben. Ein Kranich steigt auf (wirklich: ein Kranich), und da, wie gewünscht, fliegt ein Rehbock über den Weg. Was es nicht gibt! Und da, wo der Laternenpfahl sich verbeugt, war die Mauer. Und das alles nennt sich Berlin, der nächste S-Bahnhof ein Kilometer Luftlinie nah. Soll niemand sagen, nur der Osten hätte seine Mythen noch am Kochen, hier brennt die Luft.

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