Rennen ins Nichts

Jan Ullrich: Mein persönliches Tour-Tagebuch 2002

Pedale, Pedale, Pedale. Ich kann keine Pedale mehr sehen. Ich kann überhaupt nichts sehen. Ich kann nichts hören, ich rieche, schmecke, fühle nichts. Nichts! Überall nichts.

Wo bin ich? Wo seid ihr? Ich glaube, ich schwebe. Wo ist die Etappe nach Alpe d’Huez, das Bergzeitfahren nach Chamrousse, die Pyrenäenetappe, die Abfahrt vom Peyresourde, das Merdinger Loch? Niemand fährt hier. Kein Gehilfe Heppner, kein Getreuer Klöden, kein Gigant Zabel. Nicht mal Udo Bölts. War sonst immer da. Ewig und immer Udo Bölts. Immer vor oder hinter mir. Aber nicht hier.

Es ist still hier. Kein „Komm, komm, komm“, kein „Geh, geh, geh!“ So still ist es hier. „Um-pa-tumm !“ Ich höre nichts. „Dumpf-ta-dumm!“ Ich höre kein „Dumpf-ta-dumm“. Das „Dumpf-ta-dumm“ existiert nicht. Wie das Nichts. Das Nichts ist alles, was nicht existiert, das „Dumpf-ta-dumm“ nur etwas, das nicht existiert. Wie das Um-pa-tumm. Das Um-pa-tumm ist nichts, das Ganze aber nur etwas von dem, was Nichts alles ist.

Nichts! Ich will nichts mehr. Ich will mehr Nichts! Nichts! Ich weiß nicht, was Nichts ist! Lance Armstrong fährt vorbei. Er weiß, was das Nichts ist. Induráin hat es ihm erzählt. Der hat es von Hinault, der von Eddy Merckx, der von Lucien van Impe und der schließlich von Didi Thurau: das Nichts! Das Nichts sieht aus wie ein Teller mit frischen Früchten, Käse, Wein und etwas Baguette.

Das ist das Nichts. Genau: ein Teller voll mit Früchten. Mit Godefroot. Godefroot ist nichts. Mit Käse. Und Wein und etwas Baguette. Nur alles viel kleiner. Geradezu winzig. Winziger als ein Winzer, ein winziger Winzer. Winziger als Cerealien im Müsli-Riegel. So winzig wie ein unsichtbarer belgischer Zwerg hinter einem französischem Berg, den man nicht mehr sehen kann.

Ich sehe kein Müsli, keinen Wein, keinen Käse, keine Baguettes. Ich muss abnehmen. Ich muss winzig werden wie ein Winzer, eine Cerealie, ein Zwerg.

Ich bin ein Nichtstuer. Ich mache eine Nichtstour! Ich tue nichts. Ich habe nichts getan. Ich habe keinen Porsche mehr. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Es ist nichts passiert. Nie!

Montag: Nichts. Dienstag: Auch Nichts. Mittwoch: Wieder Nichts. Donnerstag: Weiter Nichts. Freitag: Noch Nichts. Sonnabend: Nur Nichts. Sonntag: Nichts mehr als nichts mehr.

Alles ist nichts. Am Anfang war das Nichts, am Ende steht das Nichts. Dazwischen ist auch Nichts. Aus Nichts wird Nichts.

„Bitte lassen Sie mich durch, ich bin Friseur!“ Keiner will die Frisur von Jürgen Emig. Nicht mal Gaby. Niemand kommt und geht. Keiner bleibt. Nichts ist, was uns übrig bleibt. JAN ULLRICH