Der Kandidat, den keiner kennt

von KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Der Bökel kommt. Mit dem Bus. Der ist mit knallroter Folie beklebt worden. „Bökel on Tour!“ steht darauf, direkt neben seinem Konterfei. Freundlich sieht er aus, der Bökel auf dem Bus. Mit der oberen Zahnreihe hat er in die Kamera gelächelt, irgendwie gewinnend. Alles passt zusammen. Der Bökel selbst ist – politisch – genauso rot wie der im Saarland gecharterte alte Setra. Bisher gingen nur Rockgruppen mit ihm auf Tournee.

Der Bökel ist Sozialdemokrat und steht derzeit im Wahlkampf. Nicht nur im Bundestagswahlkampf, sondern auch in dem für die Landtagswahl im Februar in Hessen, bei der er Spitzenkandidat der SPD ist und gegen den Ministerpräsidenten Roland Koch von der CDU antritt. Bei der Landtagswahl könnte es darum gehen, für die SPD nach einer – verlorenen oder gewonnenen – Bundestagswahl der Union die Mehrheit im Bundesrat abzujagen.

Der Hammerwerfer

Gerhard Bökel gibt schon jetzt alles. In Lauterbach in Mittelhessen verlor der 56-Jährige gleich in der ersten Tourwoche seine Stimme. Acht Stunden lang ließ er sich in einer Klinik die Stimmbänder neu schmieren. Die hielten dann durch bis zum Schluss. So wie der ganze Bökel. Ob im Odenwald bei den Schweinezüchtern oder am Altrhein bei den Naturschützern. Ob in Frankfurt bei den Börsenhengsten oder in Bornheim bei den Marktfrauen. Der kleine Mann aus Braunfels an der Lahn bewies überall Stehvermögen.

Das hat er schon als Hammerwerfer gebraucht. Gerhard Bökel war im letzten Jahr Zweiter bei den Hessenmeisterschaften der Senioren. Schon als Jugendlicher warf er den Hammer 47 Meter weit – und gehörte jahrelang zu den zehn besten Werfern in Deutschland.

Gerhard Bökel saß drei Wochen Tag für Tag im roten Bus. Er verteilte rote Rosen und Faltblätter, schüttelte Hände und küsste die Genossinnen aus den Ortsvereinen ab. Auch in den nächsten Monaten wird er, wenn auch nicht im Omnibus, weitermachen. Denn er muss unbedingt bekannter werden. Oder besser gesagt: bekannt. Roland Koch kennen fast alle Hessen. Gerhard Bökel, den Oppositionsführer im Landtag, kennen nach Umfragen noch nicht einmal 60 Prozent.

In Dillenburg ist das anders. Im Lahn-Dill-Kreis war der 1946 in Sontra geborene Sohn eines Kali-Bergmanns bis 1994 neun Jahre lang Landrat. Gleich nach dem Jurastudium in Gießen stieg der junge Anwalt in die Kommunalpolitik ein, saß bald darauf im Kreistag und 1978 im Landtag. Dass er im rot-grünen Kabinett von Hans Eichel bis zum Wahlsieg von Koch 1999 auch fünf Jahre lang Innenminister des Landes war, daran könnten sich die Menschen im Landkreis dagegen nicht mehr erinnern, erzählt Bökel im Bus: „Wenn ich hier einkaufe, bin ich für die Leute noch immer der Landrat.“ Dabei ist er in Personalunion Fraktionschef der SPD im Wiesbadener Landtag und hessischer Landesvorsitzender der Partei.

In Dillenburg bei Krupp-Nirosta warten die Betriebsräte und ein Vorstandsmitglied vor dem Werkstor auf Bökel. Das Walzwerk schreibe schwarze Zahlen, die Arbeitsplätze seien sicher und die Auszubildenden würden alle übernommen, berichtet das Vorstandsmitglied am Tageslichtprojektor. Das freut Bökel. Mit wehendem grauen Kittel und rotem Helm auf dem Kopf schreitet der kleine Mann mit dem Technischen Direktor und dem Vorstand voraus durch die Produktionshalle, die Betriebsräte kommen kaum nach. „Bökel, der Eilige“, frotzelt einer aus seinem vierköpfigen Begleitteam.

Abfahrt nach Gießen. Die SPD müsse sich wieder mehr um die einfachen Arbeiter kümmern, konstatiert Bökel im Bus. Die seien nämlich bei der letzten Landtagswahl zu Hause geblieben oder hätten „CDU oder Schlimmeres“ gewählt. Mit Infomaterial will er deshalb in seinem Wahlkampf „schon zu Beginn der Frühschicht“ wieder vor die Fabriktore ziehen. Als Politiker müsse man sich den Menschen auch persönlich vorstellen, sagt er. Und man habe ihre Probleme ernst zu nehmen.

Eine Stunde später: Universität Gießen, Mensa. Ein paar Jusos begrüßen Bökel herzlich. Sie haben den Klapptisch für die Faltblätter und die roten Rosen schon aufgebaut. Der Bökel isst lieber erst einmal – tapfer – eine geschmacklose Bratwurst für 1 Euro und 50 Cent. Die langstieligen roten Rosen kommen bei den Studentinnen dann nicht ganz so gut an wie später bei den Hausfrauen auf dem Kirchplatz.

Der Kandidat diskutiert inzwischen schon mit zwei Mitgliedern des Studentenausschusses von einer undogmatischen linken Liste über Studienzeiten und -gebühren. Er preist sein Modell von der „Regelstudienzeit plus zwei Semester“ an. Länger, sagt er, dürften die Studenten „den Arbeitern dieses Landes“ nicht mehr auf der Tasche liegen“. Für jedes weitere Semester seien Studiengebühren zu bezahlen.

Der Rosenkavalier

Die Studentenvertreter halten dagegen: Viele gerade aus sozial schwachen Familien seien gezwungen, neben dem Studium zu arbeiten. Sie könnten die Regelstudienzeiten überhaupt nicht einhalten. Die Standpunkte bleiben konträr. Am Ende räumt Bökel ein, dass die Festlegung auf „plus zwei“ bei der SPD noch kein Dogma sei, man könne über längere Aufschläge auf die Regelstudienzeit noch reden. Die Studenten bleiben dennoch skeptisch. Politikern sei „generell nicht zu trauen“, konstatiert einer. Aber sie erkennen beide an, dass der Bökel der erste Politiker gewesen sei, der „ernsthaft“ mit ihnen geredet habe. Und wenn sie die direkte Wahl hätten zwischen Koch und Bökel? „Dann Bökel; Koch ist kein Thema!“ Bökel lächelt.

Wieder im Bus. Bökel will nicht sagen, ob er nach einer gewonnenen Landtagswahl mit den Grünen zusammengehen wird. Die seien zwar seine „Wunschpartner“. Aber die Gegensätze über den Ausbau des Frankfurter Flughafens machten eine Prognose über die künftigen politischen Konstellationen in Hessen schwierig.

Der Glaubwürdige

Die Grünen sind geschlossen gegen jeden Ausbau, die Sozialdemokraten wackelig dafür. Bökel sagt: „Ohne ein juristisch wasserdichtes Nachtflugverbot und ohne ordentlich durchgeführte Verfahren wird es mit mir keine neue Landebahn am Flughafen geben.“ Ganz beiläufig erwähnt er, dass er auch mit Ruth Wagner von der FDP ganz gut könne. Dass Wagner dem Koch auf dem Höhepunkt der Schwarzgeldaffäre der CDU die Stange hielt, habe ihn allerdings „temporär“ an der Frau verzweifeln lassen.

Auf dem Kirchplatz in der Innenstadt von Gießen werden solche Fragen nicht aufgeworfen. Die Leute kommen mit ihren persönlichen Problemen zum „Herrn Minister“. Minister? Bökel lächelt. Sagt, dass er kein Minister mehr sei, aber gerne Ministerpräsident werden wolle. Und er hört sich geduldig alle Klagen an. Beschimpft ihn einer im Vorübergehen, läuft er hinterher und versucht, Überzeugungsarbeit zu leisten. Das klappt nicht immer. Dann winkt er ab: „Bei dem ist alles zu spät!“

Manchmal, wenn gegen Ausländer und Asylbewerber gehetzt wird, wird er grob und schimpft auch schon einmal zurück. Auf alle anderen geht er mit offenen Armen zu. Bei älteren Damen spielt er den Charmeur. „Darf ich Ihnen eine Rose überreichen, schöne Frau, und dieses kleine Faltblättchen hier?“, schmeichelt er. Die Rentnerin ist entzückt und fängt an, sich über den „Teuro“ zu beklagen. Der Bökel verteidigt den Euro. Zwei Frauen kommen dazu. Und noch ein Rentner. „Glaubwürdig“ komme er rüber, sagen Gesprächspartner hinterher. Und nach drei Wochen mit Bökel auf Tour stellt der Busfahrer fest: „Das ist ein ganz prima Kerl.“ Ob das reicht, um Koch zu schlagen?