nebensachen aus taschkent
: Mit fast hundert Sachen sechsspurig und staufrei durch die Metropole

Vom lebensrettenden Sprung auf die andere Straßenseite

Die usbekische Hauptstadt ist die einzige Großstadt, die ich kenne, in der es keine Staus gibt. Sie hat fast 2,5 Millionen Einwohner, und nicht wenige davon fahren Auto. Aber die Straßen hier sind so unglaublich breit, dass der Verkehr nie ins Stocken gerät. Das kommt daher, dass Taschkent Ende der Sechzigerjahre als Modellprojekt einer sowjetischen Großstadt konzipiert und gebaut wurde. Denn die Viertel, die nicht durch ein Erdbeben im April 1966 zerstört worden waren, wurden es durch die sozialistischen Stadtplaner.

Noch in die letzten Wohnviertel haben sie sechsspurige Alleen gezogen und an ihre Ränder einen Plattenbau neben den anderen gesetzt. Deren Fassaden bröckeln ungestört vor sich hin, weil sie nie renoviert wurden. Natürlich verleiten diese riesigen Alleen die Autofahrer dazu, kräftig aufs Gaspedal zu treten, und viele machen davon entschlossen Gebrauch. Es soll die Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gelten – keiner weiß Genaues –, und viele Fahrer hupen und halten mit ihren Ladas und im Land gebauten Daewoos auf die Fußgänger drauf, die die Straßenseite wechseln, anstatt ein bisschen auszuweichen.

Seitdem ich jedoch erfahren habe, dass niemand eine Versicherung für sein Auto abgeschlossen hat, renne ich noch ein bisschen schneller über die Straßen. Meine Vermieterin, die selbst Jagd auf Fußgänger macht, und einen, als ich auf dem Beifahrersitz saß, mit dem Seitenspiegel streifte, sagt dazu: „Die Regierung hat versucht, die Versicherungspflicht durchzusetzen, aber sie passt nicht in die Vorstellung der Usbeken, wie man Geschäfte macht. Sie haben kein Vertrauen, jemandem Geld zu geben, und es im Schadensfall wiederzubekommen.“

Und so hatte das Versicherungswesen in Usbekistan nie eine Chance. Aus Prinzip lehnen es die Autofahrer auch ab, einen Sicherheitsgurt zu tragen. Viele können die Geschichte eines Unfalles erzählen, bei dem ein Fahrer gestorben ist, weil er einen Sicherheitsgurt trug. Wie das zugegangen sein soll, kann keiner sagen. Aber so war es! Und der Autor meines Zentralasien-Handbuches machte nur am Anfang einmal den Fehler, zu seinem Gurt zu greifen – bis ihn der Fahrer warnte: „Tu das nicht! Die Leute werden denken, wir sind Rebellen aus Tadschikistan.“

Aber genau wie mir der Taschkenter Straßenverkehr usbekisch vorkommt, haben die Usbeken so ihre Probleme mit dem Verkehr in Europa. Eine Freundin meiner Vermieterin war vor ein paar Monaten in Deutschland und kam mit einem milden Schock über die Gepflogenheiten des deutschen Straßenverkehrs zurück. An den Autobahnen hatte sie rot geränderte Schilder mit Zahlen wie „100“ oder „130“ gesehen. Wieder in Taschkent erzählte sie meiner Vermieterin: „Deutschland ist ein komisches Land. Dort gibt es Verkehrsschilder mit Geschwindigkeitsangaben. Und stell dir vor: Auf den Autobahnen muss man schneller fahren, als sie anzeigen.“ PETER BÖHM