Plädoyer für Menschlichkeit

Diakonie will öffentliche Diskussion über Qualität von Pflege. Modellprojekt soll tatsächlichen Bedarf in Hamburg ermitteln. Mit Diskussionen ist zu rechnen

„Wir diskutieren immer über Pflegeskandale, aber nie über die dahinter liegenden Strukturen“, sagt Hartmut Sauer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werks Hamburg. Er fordert eine gesellschaftliche Debatte über die Qualität von Pflege. Als Anstoß hat er jetzt ein 15-seitiges „Plädoyer für eine ganzheitliche und menschengerechte Pflege“ vorgelegt.

„Heute leben in Deutschland 2,9 Millionen Menschen, die älter sind als 80 Jahre, in 20 Jahren werden es über fünf Millionen sein.“ Gleichzeitig schrumpft die Zahl der Gesamteinwohner, also auch die der Arbeitnehmer. Dabei ist die Lage schon heute desolat: „In der häuslichen Krankenpflege hat sich die Lage so zugespitzt, dass weitere Anbieter Insolvenz anmelden werden.“ Unter dem Kostendruck sei es beispielsweise ein Nachteil, ausgebildete Kräfte nach Tarif zu bezahlen. Weil die Pflegedienste nicht für die Zeit bezahlt werden, die sie mit den Kranken verbringen, sondern für bestimmte Leistungen, versuchten sie, die so schnell wie möglich zu erledigen. „Mir wäre es lieber, man würde ein Zeitmaß festlegen, auf das der Pflegebedürftige dann Anspruch hätte“, sagt Sauer.

Probleme gibt es auch in der stationären Pflege: Eineinhalb Jahre lang haben Pflegeverbände, die Stadt als Sozialhilfeträger, Pflegekassen und Vertreter von Senioren- und Behindertenverbänden im Landespflegeausschuss Hamburg über ein Verfahren diskutiert, mit dem man den Pflege- und Personalbedarf bemessen kann. Das Verfahren nennt sich „Plaisir“ und kommt aus Kanada, in Deutschland gibt es erste Modellversuche. Dabei werden Pflegebedürftige mithilfe von Fragebögen „evaluiert“, also nach ihrem persönlichen Pflegebedarf befragt. Auch die Mitarbeiter werden befragt und außerdem die tatsächlich geleistete Pflege ausgewertet. Alles zusammen ergibt dann am Ende einen Personalbedarf für jede Einrichtung, der dann mit dem tatsächlichen Bestand verglichen wird. „Die bisherigen Berechnungen gehen davon aus, dass nur 70 Prozent der erforderlichen Pflege geleistet werden“, sagt Sauer.

Weil sich in Hamburg Stadt und Kassen an dem Projekt nicht beteiligen wollten –„zu kurzfristig“, sagt Sozialbehördensprecherin Anika Wichert – führen die Pflegeverbände es jetzt alleine durch. Sauer erklärt das anders: „Kassen und Sozialhilfeträger scheuen solche Verfahren wie der Teufel das Weihwasser. Sie befürchten, dass die strukturellen Defizite und die personelle Unterausstattung in der Pflege nicht mehr zu leugnen wären.“

Insgesamt 2500 der 15.000 Hamburger Pflegebedürftigen werden befragt. Im September liegen erste Ergebnisse vor. „Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass es bei der Bewertung der Ergebnisse unendliche Streitereien geben wird“, sagt Sauer. SANDRA WILSDORF