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Blutrausch am Wasser

Auf Berliner Seen und Flüssen treibt ein neues Untier sein Unwesen: das Wasserhuhn

Plötzlich ein gellender Schrei! Unruhe, nein, Panik bricht aus am Kleinen Müggelsee!

Sommerzeit, Hitze, Badezeit. Tausende Berliner Familien zieht es, besonders an den Wochenenden, zum Baden, Picknicken, Grillen an die umliegenden Seen. Besonders für die Kinder ist das Planschen im Wasser ein wunderbares Vergnügen. Doch in Köpenick ist die ungetrübte Freude anscheinend vorbei. Seit geraumer Zeit zeigen die Wasserhühnchen, die im Kleinen Müggelsee ansässig sind, auffallende und beunruhigende Verhaltensänderungen. Die normalerweise eher scheuen und friedlichen Tiere, besser bekannt als Blesshühner, verhalten sich immer agressiver gegenüber den menschlichen Wochenendgästen. Durch eine Mitteilung des Bundesumweltministeriums auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, verabrede ich mich am Kleinen Müggelsee mit Peter Brockmann (43), der dort zusammen mit einem Kollegen als Mitglied des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) den Bademeisterdienst versieht.

Schon die Anfahrt zu dem idyllisch gelegenen See, der nur durch einen schmalen Arm mit seinem Bruder Großer Müggelsee verbunden ist, versetzt mich in eine heimelige Stimmung. Verträumt windet sich die Straße durch ein lauschiges Waldgebiet, bald geht sie in einen erdigen Weg über – ich lasse den Wagen stehen und gehe den Rest der Strecke zu Fuß weiter. Und endlich liegt er vor mir, der Kleine Müggelsee, in seiner ganzen Schönheit. Friedvoll gleiten die Boote im Sonnenlicht durch das schimmernde Wasser, Vögel zwitschern, hier und da springt ein Fisch in die Luft, große Weiden spielen mit ihren Zweigen träumerisch im angenehm warmen Wind. Am Ufer unter den Bäumen sieht man vereinzelt kleine Grüppchen von Ausflüglern lagern und die romantische Atmosphäre genießen. Schnell stoße ich auf einen weiten Sandstrand. Lachende Menschen spielen Frisbee und Volleyball, sonnen sich, schwimmen, tauchen – es ist einfach nur schön. Allerdings verwirrt mich etwas: Es sind erstaunlich wenig Menschen hier draußen. Für einen Tag am Wochenende, bei diesem Prachtwetter mitten im Hochsommer wirkt der Ort ein bisschen verlassen. Ich entdecke die kleine Hütte, die mir Peter Brockmann beschrieben hat.

Brockmann – ordentlich in Weiß gekleidet – sitzt auf einer Miniterrasse vor der Graffiti-besprühten Hütte und lauscht mit geschlossenen Augen der Wassermusik von Händel, die aus einem kleinen, tragbaren Kassettenrekorder knarzt. Ich räuspere mich leise, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, ohne ihn zu erschrecken. Er springt drahtig auf, reicht mir die Hand und lacht ein gesundes Lachen: „Ja, sehen Sie, hier sitze ich herum und höre so lange Musik, bis jemand am Ertrinken ist. Dann springe ich ins Wasser, hole den armen Tropf wieder raus, reanimiere ihn, und singe ein bisschen ‚I’ve been looking for Freedom‘, bevor ich mich für den Rest des Tages als Held feiern lasse!“ Er zwinkert mir aus dem gut gebräunten Gesicht zu und ergänzt: „Nein, jetzt mal im Ernst: Hier passiert so gut wie nichts.“ Ein Hauch von Traurigkeit überschattet seinen strahlenden Blick: „Jedenfalls passierte hier bis vor kurzem so gut wie nichts.“ Und damit sind wir beim Thema: die Wasserhühnchen. „Anfangs habe ich das wirklich nicht ernst genommen, und das kann mir keiner verdenken. Wasserhühnchen sind doch die harmlosesten Tiere unter der Sonne, ich dachte mir halt, da drehen mal wieder ein paar überbesorgte Eltern durch, aber als dann auch noch die Faltbootpaddler ankamen, dann die Picknick-Grüppchen, gestern hat sich sogar der erste Yachteigner gemeldet – da kann ich jetzt nicht mehr dran vorbeigucken!“

Brockmann deutet auf eine Familie am äußersten Ende des Strandes. „Die kommen zwar noch her, aber ans Wasser trauen die sich nicht mehr – und ich kann sie verstehen!“ Traurig lehnt er sich im Aufsichtsstuhl zurück und schließt die Augen.

Familie Simoneit (alle Namen von der Redaktion geändert) – das sind Frank (36), Christiane (32), der 5-jährige Joshua und die 3-jährige Sahra-Liane. „Es war erschreckend!“, berichtet Christiane Simoneit, „Sahra-Liane spielte ein bisschen am Ufer, fütterte die Enten mit Brotkrummen, na ja, was Kinder halt so tun. Plötzlich kamen diese Viecher, sie kamen in Massen, als würde es dort ein Nest geben, sie umzingelten Sahra-Liane, und die Kleine stand ja mit den Beinen schon im Wasser. Bis ans Knie! Sahra-Liane fing an zu weinen, und wir riefen ihr zu: ‚Komm zurück an Land!‘ Aber Sahra-Liane war schon völlig hysterisch, sie konnte nicht mehr klar denken.“ Dann führt Christiane Simoneit die Wunden ihrer Tochter vor.

Ich kann beinahe nicht hinsehen. Zu schrecklich sehen die verkrusteten Pünktchen aus, die die Waden und Schienbeine des Kindes übersäen. Die Wasserhühnchen müssen in einem wahren Blutrausch gewesen sein, als sie über das Mädchen herfielen.

Meine Recherchen bei den Bootseignern und Picknickgrüppchen ergeben erschreckende Resultate: Die Viecher haben schon so manchem Kleinkind ein Stück Zeh oder einen Finger abgebissen und Schlauch- oder Faltboote zum Untergang gebracht. Sie scheuen sogar nicht mehr davor zurück, Kühltaschen umzustürzen und ahnungslosen Menschen, die harmlos auf ihrer Badematte sitzen, von hinten in den Rücken zu picken. Ein Mann soll nur knapp einer Querschnittslähmung entgangen sein.

Plötzlich ein gellender Schrei! Unruhe, nein, Panik bricht aus am Kleinen Müggelsee! Wasserhühnchen gesichtet! Die Menschen raffen zusammen, was sie in der Eile packen können, und fliehen zu ihren Autos oder Fahrrädern. Wie aus dem Nichts bricht ein Trupp in Tarnkleidung aus den Büschen, Waffen im Anschlag. Wer noch nicht weg ist, wirft sich zu Boden, um nicht in den Kugelhagel zu geraten … Ich renne um mein Leben – ein Leben, das ich nicht für eine Schlagzeile aufs Spiel setzen möchte. CORINNA STEGEMANN

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