„Sie sollen Freude haben“

Nach 19 Profijahren hat Jürgen Kohler sein Trikot an den Kleiderhaken gehängt. Nun will der „Kokser“ dem deutschen Fußballnachwuchs vermitteln, was es dazu braucht, ein guter Profi zu sein

von THOMAS PLÜNNECKE

„Silke, der Kleine!“ Wenn Jürgen Kohler im Kreis der Familie ist, wird der Fußball zur Nebensache. Abrupt beendet er den gerade begonnenen Satz und richtet den Fokus auf Nesthäkchen Malon, der zu einer Entdeckungstour durch das Haus gestartet ist. Erst nachdem der besorgte Papa den elf Wochen alten Ausreißer in Sicherheit wähnt, widmet er sich wieder dem Gespräch: „Entschuldigung, wo waren wir?“

Wenig erinnert in diesem Moment an den beinharten Verteidiger, dem die italienischen Sport-Gazetten einst den Spitznamen „Massino“ (bissiger Hund) verpassten. Zuverlässig wie ein Uhrwerk erledigte der schwarzhaarige Abwehrrecke seinen Job, grätschte selbst die besten Torjäger in Angst und Schrecken: respektlos, kompromisslos, gnadenlos. Gefühle zeigte der Eisblock erst auf den letzten Metern seiner Laufbahn: Mit feuchten Augen stand Kohler auf dem Rasen des Westfalenstadions und reckte die Arme Richtung Südtribüne – dorthin, wo die treuesten Borussen-Fans ihn als Fußballgott verehren. Aus, aus, aus, das Spiel war aus. Abgepfiffen für immer.

Die Tränen des Abschieds sind inzwischen getrocknet. „Ich bin froh, den Schritt gemacht zu haben“, versichert der merklich entspannte Exprofi und ergänzt: „Es ist besser zu gehen, so lange der ein oder andere den Abgang bedauert und nicht darüber stöhnt, dass man immer noch spielt.“ 105-mal trug Kohler den Bundesadler auf der Brust, war in 8.890 Länderspielminuten an manchem Höhenflug der deutschen Elf beteiligt. Da versteht es sich fast von selbst, dass der DFB ein solches Aushängeschild nicht einfach in den Ruhestand ziehen lässt: Kohler, der die Trainerlizenz in einem Sonderlehrgang erworben hat, übernahm Anfang des Monats den Führungsstab der deutschen U 21-Auswahl.

„Ich wollte mit dem verbunden bleiben, was mir am meisten Spaß macht“, begründet der 36-Jährige den Wechsel auf die Trainerbank. Gerne hätte BVB-Coach Matthias Sammer den Routinier eine weitere Saison an den Verein gebunden. Doch der lehnte ab. Intuitiv, wie er sagt: „Nach 19 Profijahren spürt man einfach, wann es Zeit ist, aufzuhören.“ Gefragt, was er mit dem Karriereende verbindet, macht Kohler die Tragkraft der Entscheidung deutlich: „Mir wird ein Stück Leben genommen, das mich von klein auf geprägt hat.“

Dass er trotzdem keinen Rückzieher gemacht hat, passt zur Vita eines Kickers, der sein Existenzrecht stets auf Grasnarbenhöhe verteidigen musste. Vom Bolzplatz des TB Jahn Lambsheim schaffte der „Wadenbeißer“ (Kohler über Kohler) den Sprung in den Fußball-Olymp, sammelte nationale und internationale Titel wie andere Leute Briefmarken. Nimmt man die Qualität der Lehrmeister als Maßstab, lässt der Trainernovize kaum Zweifel an seiner fachlichen Kompetenz. Trapattoni, Lippi, Hitzfeld, Daum – schon ein kurzer Auszug liest sich wie das Who’s who der Branche. Wer allerdings mit einer Kopie rechnet, wird enttäuscht: „Ich hatte tolle Trainer und werde versuchen, aus ihrer Arbeit das Beste herauszuholen. Letztlich will ich aber meinen eigenen Weg gehen.“ So ist er eben, der Kokser: geradlinig und konsequent. Ein Mann, der weiß, was er will. Auch wie er es bekommt? „Nein, aber wie ich daran arbeiten muss.“

Gearbeitet hat der gebürtige Kurpfälzer immer. Ob in Köln, München, Dortmund oder Turin – er gab den Leuten stets das Gefühl, den Platz umpflügen zu wollen. Ein Malocher also, dem der Virtuose Beckenbauer alle Tugenden eines vorbildlichen Profis attestierte: „Fleiß, Ordnung, Disziplin, Pünktlichkeit, Einsatzwille – und natürlich die Tatsache, dass er niemals aufgibt.“

Vorgänger Hannes Löhr hinterlässt dem neuen Chef ein bestelltes Feld. „Jürgen Kohler kann eine Mannschaft übernehmen, die intakt ist und einen guten Charakter hat. Er wird viel Freude an ihr haben“, sagt Löhr, der seit 1986 zum Trainerstab des DFB gehörte. Einen ersten Eindruck seiner Schützlinge verschaffte sich Kohler Anfang Mai beim Zehn-Nationen-Turnier im französischen Toulon. Fazit: „Es gibt viele Talente.“ Aus ihnen will der frühere Waldhof-Bub eine schlagkräftige Truppe formen, der Nationalelf nach und nach frisches Blut zuführen. Einordnen, aber nicht unterordnen lautet die Devise: „Die Spieler dürfen Fehler machen, aber die Einstellung muss stimmen.“

Für Jürgen Kohler war und ist der Fußball eine Herzensangelegenheit, Leidenschaft der Schlüssel zum Erfolg. Und genau diese Einstellung ist es, die er auch dem Kicker-Nachwuchs vermitteln will: „Die Jungs müssen es als Glück begreifen, ihr Hobby zum Beruf machen zu können. Sie sollen Freude haben, gern zu den Spielen kommen und es als das absolut Höchste betrachten, ihr Land repräsentieren zu dürfen. Nur so ist erfolgsorientierter und schöner Fußball möglich.“

Sein Debüt an der Außenlinie gibt Jürgen Kohler am 20. August beim Klassiker gegen Italien. Einen Monat später beginnt die Qualifikation zur EM 2004, wo das DFB-Team auf Litauen, Island und Schottland trifft. Neben der Betreuung der Mannschaft sieht der bis 2007 datierte Vertrag auch Verpflichtungen wie Lehrgänge, Sichtungen oder Tagungen vor. „Es gibt eigentlich immer etwas zu tun“, fasst Kohler zusammen. Und falls ihm doch einmal langweilig werden sollte, lässt sich bestimmt eine Beschäftigung im Haus der Familie bei Köln finden. Der 1,86-Hüne in Kittelschürze? Eine eher abwegige Vorstellung. Aber vielleicht als Kindermädchen für Laura (9), Ramon (3) und Malon. Die drei Kohler-Sprösslinge freuen sich bestimmt, wenn sie ein so erfahrener Bodyguard auf dem Spielplatz beschattet.