: Die Geister der Vergangenheit
Angesichts wachsender Armut schlägt in Serbien wieder die Stunde der Demagogen. Für das Amt des Präsidenten will bei den Wahlen jetzt auch der Nationalist Vojislav Šešelj kandidieren. Die sogenannten Demokraten diskreditieren sich immer mehr
aus Belgrad ANDREJ IVANJI
Noch vor wenigen Jahren wollte Vojislav Šešelj im Namen des Serbentums Kroaten und Muslimen „die Augen mit einem verrosteten Löffel ausstechen“. Am vergangenen Wochenende gab der Führer der Radikalen Partei (SRS) seine Kandidatur für die serbischen Präsidentschaftswahlen im September bekannt. Auch die Sozialistische Partei (SPS) will die Kandidatur ihrem Gründer und Präsidenten anvertrauen – Slobodan Milošević. Dass dem ehemaligen Kriegsherrn Serbiens gerade wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess vor dem UN-Tribunal in Den Haag gemacht wird, betrachtet man als eine kostenlose Wahlkamapgne für den „serbischen Volkshelden“ und seine Partei.
In diesem Sommer suchen Serbien die Geister der Vergangenheit heim. Die Anhänger von Milošević demonstrierten selbstgefällig im Zentrum Belgrads mit Parolen wie „Milošević wird zurückkommen!“ und großen Fotos des gestürzten Herrschers mit seinem Enkelsohn. Auch die Bilder von den steckbrieflich wegen Kriegsvebrechen gesuchten bosnisch-serbischen Führern Radovan Karadžić und Ratko Mladić fehlten nicht. Man protestierte gegen die „korrupte“ Regierung, die „die Aufträge der USA kriecherisch ausführt“. Die Milošević anbetende Masse blockierte stundenlang die Innenstadt, schlug im Gebäude der serbischen Regierung einige Fenster und einem Polizisten den Kopf ein. „Ein Ball der Vampire ist das“, kommentierte ein Passant das Geschehen. „Ich habe wirklich gedacht, diese Leute würden sich vor Scham nie wieder in die Öffentlichkeit trauen.“
Auch Vuk Drašković, der vergessene „König der Massenproteste“ gegen Milošević, wollte es kürzlich noch einmal mit einer Volkskundgebung vor dem Bundesparlament in Belgrad wissen. Durch die Hauptstadt spazierten so neben den entmachteten „Kommunisten Milošević’“ Anhänger von Drašković’ „Serbischer Erneuerungsbewegung“ (SPO) – vollbärtige Tschetniks mit Pelzmützen, Kokarden und Totenkopffahnen, wie vor einem Jahrzehnt inmitten der nationalistischen Kriegseuphorie.
„Neuwahlen oder Massenproteste, bis das Regime stürzt!“, brüllte Drašković vor rund 20.000 Menschen. Er beschuldigte Serbiens Premier, Zoran Djindjić, genau so ein Diktator zu sein wie Milošević, und warf der serbischen Regierung vor, das Land ausländischen Investoren zu Spottpreisen zu verkaufen.
Geschickt spielte der immer noch charismatische Vuk (Wolf) mit der katastrophalen sozialen Lage in Serbien und der riesigen Arbeitslosigkeit, mit der wachsenden Unzufriedenheit und der tragischen Situation der im Kosovo verbliebenen Serben. Eine Mischung aus Demagogie und dem Anheizen patriotischer Gefühle, die Serbien schon einmal zum Abgrund geführt hat.
Drašković, jahrelang der gefährlichste Gegner Milošević’, hielt sich während des Volksaufstandes vor zwei Jahren im Hintergrund und verpasste die Gelegenheit, an die Macht zu kommen. Doch jetzt wachsen in Serbien Unzufriedenheit und Ungeduld. Streiks der Eisenbahner, Lehrer, Taxifahrer oder Bergarbeiter wechseln sich ab. Die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt. Allein der Strompreis stieg unlängst um fünfzig Prozent.
Der erbarmungslose Machtkampf zwischen Premier Djindjić und Bundespräsident Vojislav Koštunica kompromittiert immer mehr die demokratischen Kräfte, die das Regime Milošević vor zwei Jahren gestürzt haben. Die Wähler hätten damals nicht „für“ die Opposition, sondern „gegen“ Milošević gestimmt, warnen serbische Analytiker. Die seien auch nicht anders, hört man immer mehr Menschen sagen. Sie wollten nur Macht, alles andere sei ihnen egal. Und die DOS-Führer, denen die Serben voller Hoffnung nach einem 10-jährigen Kampf gegen das repressive Regime Milošević zur Macht verholfen haben, tun ihr Möglichstes, um das Vertrauen der Wähler zu verspielen. Kein Monat vergeht ohne Spionage- oder Sexaffären, Gesetze und die Verfassung werden missachtet, gegenseitige Beschuldigungen erinnern an die Hetztiraden der Milošević-Ära.
Den Belgradern tut es gut, nach 10 Jahren Isolation wieder Fremdsprachen auf den Straßen und in den Bars der Hauptstadt zu hören. Doch der große Aufschwung ist ausgeblieben. Die marktwirtschaftlichen Erfolge und die außenpolitische Anerkennung der Regierung bekommen die Bürger noch nicht zu spüren. Stattdessen wächst die Frustration und damit die Angst, die von Unruhen und Elend geprägte Vergangenheit könnte das Land wieder einholen.
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