Voller historischer Bezüge

Reflektionen über die Sans Papiers: Madjiguène Cissé präsentiert heute im Schanzenbuchladen die deutschsprachige Veröffentlichung ihres Berichts aus dem Inneren der Bewegung

Erfolg ist nicht gleichbedeutend mit dem buchstäblichen Erreichen der Ziele

von SERHAT KARAKAYALI

Vor fast genau sechs Jahren entstand in Frankreich die Bewegung der Sans Papiers, derjenigen MigrantInnen, die nicht selten achtlos die „Illegalen“ genannt werden. Nun liegt erstmals ein Buch in deutscher Sprache vor, das die Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen der Kämpfe der Papierlosen reflektiert. Madjiguène Cissés Bericht aus dem Inneren dieser Bewegung – sie war lange Zeit Sprecherin des ersten MigrantInnen-Kollektivs, das (durch die Besetzung einer Kirche in Paris) weltbekannt wurde – ist ein Mix aus Reportage und Analyse. So wird schnell deutlich, dass die Geschichte der Sans Papiers mit der kolonialen Vergangenheit und ihren Ausläufern in Frankreichs Gegenwart verwoben ist.

Cissé beschränkt aber diesen Zusammenhang nicht auf den Skandal der historischen Ausbeutung, sondern zieht andere Linien, wie die vom „Mai 68 in Dakar“ über soziale Strukturen, die es MigrantInnen ermöglichen, Grenzen zu überwinden, bis hin zu einer Analyse der Effekte des Neokolonialismus auf die Bevölkerungen Afrikas. Dieser historische Bezug ermöglicht ihr auch, den Kampf der Sans Papiers in die „lange Geschichte der Bewegungen von MigrantInnen und AusländerInnen in Frankreich“ einzureihen.

Die vielfältigen Verbindungen zu den Arbeitslosenkämpfen und den Streiks von 1995 stellt Cissé dabei nicht bloß analytisch her. Sie zeigt auch, wie sehr sie im praktischen Alltag der Kämpfe, in Akten der Solidarität präsent waren. Dies sei deshalb so wichtig, weil der Kampf für Papiere nicht irgendein Detail, „sondern Indikator für die tief greifenden Ungleichheiten“ der Gegenwart, mithin eine „zentrale Frage im Herzen der französischen Gesellschaft“ sei.

Es geht um nichts weniger als die scheinbar unanfechtbare Vorstellung einer „notwendigen Kontrolle der Migration“ und den auch in Frankreich lange schon virulenten Topos von der Notwendigkeit der Abschottung, damit diejenigen MigrantInnen, die „schon da sind“, auch integriert werden können.

Dass Cissés Bilanz der Kämpfe positiv ausfällt, obwohl eine umfassende Legalisierung aller Sans Papiers damals nicht durchgesetzt werden konnte, hängt mit eben dieser Einschätzung zusammen. Erfolg oder Niederlage des Kampfs um Papiere lässt sich demzufolge nicht ausschließlich daran bemessen, ob die proklamierten Ziele, „Papiere für alle“ etwa, buchstäblich erreicht wurden. Ebenso wichtig ist es, ob der Topos der Migrationskontrolle aufgebrochen werden konnte und vielleicht noch wichtiger, dass die Sans Papiers in ihrem Kampf ihre eigenen „Bürgerrechte“ zu gewinnen vermochten.

Sich zu organisieren, auf die Straße zu gehen, sogar einen Hungerstreik zu beginnen, das alles sind daher auch Akte der Wiedergewinnung von Würde und Respekt, die den Sans Papiers in den täglichen Schikanen der Behörden genommen werden sollen. Das Buch handelt schließlich auch von der leidigen Problematik der Autonomie der migrantischen Organisationen und von dem Verhältnis zu UnterstützerInnen. Cissé plädiert vehement für die Notwendigkeit einer autonomen Organisation, die Unterstützungsangebote nicht abweist, doch nur auf der Basis zuvor innerhalb der Community ausgehandelter Positionen annimmt.

Die Autorin kann zwar zeigen, dass es insbesondere zu Beginn der Kämpfe anscheinend nötig war, den französischen Linken das Politikmachen wieder beizubringen, unbefriedigend aber bleibt ihre Einschätzung der Konflikte innerhalb der Sans Papiers. Sie allein auf Unerfahrenheit und die – durch die prekäre Situation bedingte – Bereitschaft zu reduzieren, allzuschnell auf Kompromisse einzugehen, dürfte jedenfalls zu kurz greifen. Dafür macht sie es sich nicht leicht, zwischen guten und faulen Kompromissen zu unterscheiden. Im Unterschied zu so mancher Diskussion hierzulande, die den Unterschied nicht einmal kennen möchte.

Für die hiesigen Verhältnisse kommt das Buch jedenfalls nicht zu spät, auch wenn seit dem ersten Erscheinen in Frankreich drei Jahre vergangen sind. Deutschland ist schließlich beinahe das einzige Land in Europa, in dem beim Stichwort Legalisierung zuallererst an Cannabis gedacht wird.

Lesung: heute, 20 Uhr, Buchladen im Schanzenviertel, Schulterblatt 34; Madjiguène Cissé, Papiere für alle. Die Bewegung der Sans Papiers in Frankreich, Assoziation A 2002, 160 S., 16 Euro