Sehnsucht nach Selbstbefriedigung

Worte, die kein Schulkind in den Mund nehmen darf: Die Serpentine Gallery zeigt zum ersten Mal sämtliche „Dirty Words Pictures“ des britischen Künstlerduos Gilbert & George. Gleichzeitig werden in London in diesem Jahr acht Millionen Pfund für den Kampf gegen Graffiti ausgegeben

von DETLEF KUHLBRODT

Graffiti und insbesondere der tag, die rüde Existenzbehauptung des Sprayers, galten Mitte der 80er-Jahre als postmoderne Kunst. Sie wurde im städtischen Raum verfolgt, aber in Museen und Filmen gefeiert. Als künstlerische Ausdrucksform von Gruppen meist, im Umfeld von Rap und HipHop, waren Graffiti kulturell integriert, standen in einem subkulturellen Kontext und wurden in Kunstdebatten besprochen.

Das Londoner Künstlerduo Gilbert und George arbeitete in seinen „Dirty Word Pictures“ von 1977 noch mit eher klassischen Formen der „Wandschmiererei“; mit aggressiven, obszönen Worten und Slogans, die sie an Häuserwänden entdeckten, abfotografierten und in 26 großformatigen – meist 300 x 250 cm messenden – Collagen verwendeten. Die Arbeiten entstanden in dem Jahr, als die Krone ihr silbernes Jubiläum feierte und „God Save the Queen“, der Nummer-1-Hit der Sex Pistols, nicht in den öffentlichen Radiostationen gespielt werden durfte. Sie gehören zu den bekanntesten Arbeiten von Gilbert und George, und erstmals werden sie gemeinsam in der Serpentine Gallery im Londoner Hyde-Park gezeigt.

Es ist schön, dass das keinen Eintritt kostet, und interessant, dass einige der Bilder mit „George and Gilbert“ unterzeichnet sind, was ähnlich irritiert wie „Obelix und Asterix“. Die Bilder bestehen aus 25 beziehungsweise 16 meist schwarz-weißen, zuweilen auch rot eingefärbten Einzelfotografien und sind nach den dirty words benannt. Die Graffiti („Cock“, „Bummed“, „Cunt“, „Scum“, „Suck“, „Fuck“, „Piss“ aber auch „Communism“), die die Künstler auf Spaziergängen nahe ihrer Wohnung fotografierten, stehen als eine Art Überschrift in der obersten Bilderreihe. Am linken und rechten Bildrand sieht man Innenraumfotos der Künstler in ihren berühmten Anzügen, dazwischen Szenen des Londoner Alltags – Obdachlose, Polizisten, Touristen, Spielzeug- und echte Soldaten, verregnete Straßenecken, die Börse oder zusammengeknüllte Zeitungen auf dem Boden („Bent“).

Es gibt drei Ebenen: die schmutzigen Wörter, aufgeladen mit sexueller Energie, nihilistisch, provokant, destruktiv, authentisch, anonym; dann die verschiedenen Alltagsbilder und schließlich die schwulen Künstler, die sich selbst als „lebende Skulpturen“ sehen und bekanntlich stets betont bürgerlich und nett in Anzügen auftreten. Eins bezieht sich auf das andere; die dirty words beschreiben den Londoner Alltag von 1977, dessen Teils auch sie sind. (Über diesen Alltag hatte George mal gesagt: „Die Leute vom Kontinent sahen England als einen fetten Haufen Dreck mit einem Punkrocker obendrauf, der das Hakenkreuz schwenkte.“) Sie beschreiben die schwulen Künstler, die das alles arrangiert haben und teilnahmslos gucken. (In ihrem Bild „Magazine Sculpture“ von 1969 geschah das noch expliziter; auf dem Bild stand: „George The Cunt“ und „Gilbert The Shit“).

Das alles erinnert an Punk, allerdings ohne Schockeffekte, dazu sind die Bilder zu genau komponiert und die Worte, die kein englisches Schulkind aussprechen darf, sind als Effekt oder als soziale Skulptur im Bild aufgehoben, etwas komplizierter, aber im Prinzip ähnlich wie die beiden gelutschten Schwänze in ihrem Bild „Hunger“. In den Bildern sind die schmutzigen Worte nicht mehr schmutzig, und diesen Prozess beschreiben die Bilder.

Die „Dirty Words Pictures“ sind beeindruckend direkt und gleichzeitig spürt man die Distanz zu der Zeit, in denen die Bilder aktuell waren, jetzt sieht man die Bilder so wie neorealistische Filme. Zur Zeit treten die Sex Pistols gerade wieder gegens Königshaus an. In London werden etwa 8 Millionen Pfund im Jahr im Kampf gegen Graffiti ausgegeben. In Berlin sind es 5,5 Mio Euro allein in U- und S-Bahnen. Es gibt einen Witz über die Arbeiten von Gilbert und George: „Ich sehe, dass Sie ‚Dick Seed‘ gekauft haben“, sagt ein Sammler zum anderen, worauf dieser antwortet: „Ich besitze schon ‚Shitted‘ und ‚Winter Pissing‘, aber tief in meinem Herzen sehne ich mich nach ‚Wanker‘, das, wie Sie wissen, eines der Highlights von ‚Britische Kunst im 20. Jahrhundert‘ in der Royal Academy vor zwei Jahren war.“

Bis 1. September, Serpentine Gallery, London, Katalog 8 £