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zwischen den rillenÜbersetzungsprobleme im Sex-Rap: Nelly und J-Luv

Ein Seufzer zu viel

Die Wahrheit, die reine, stand in der Bravo. Dort hat Nelly erklärt, wie er zum Pflaster kam. Nur „was Ekliges“ hätte er ursprünglich und kurzfristig darunter verbergen wollen. Doch mittlerweile ist der Klebstreifen zum Markenzeichen gereift, und längst haben sich neue Lesarten etabliert: Verpflastert würde vielmehr der Verlust eines Freundes an das Strafverfolgungssystem. So lange er noch einsitzt, trägt Nelly das Pflaster auf der linken Backe. Offensichtlich ist der mediale Auftritt von Cornell Haynes Jr. aus St. Louis so beeindruckend, dass sich die Legenden wie von selbst schreiben.

Die für den US-HipHop nachgerade klassische Geschichte des Exdrogendealers, der zum Superstar des Rap mutiert, ist in Nellys Fall weitestgehend verbürgt und wird nun fortgesetzt mit „Nellyville“, dem Nachfolger von „Country Grammar“. Im Vergleich zum Mehrfach-Platin-Debüt mit haufenweise partytauglichen Hits wirkt „Nellyville“ jedoch geradezu nachdenklich und erschließt sich ein wenig langsamer. Mit „Dilemma“ findet sich eine romantische Ballade, in der sich Nelly von Kelly Rowland von Destiny’s Child anschmachten lässt. Und „Say Now“ beginnt gar mit einer gequälten E-Gitarre und einem dem Alternative Country entlehnten Klaviermotiv.

Prinzipiell aber rekuriert „Nellyville“ auf altbekannte Rap-Entwürfe. Den reduzierten Inhalten (Lokalpatriotismus, Partys, Girls und Größenwahn) wird durch Zwischenspiele, in denen die Kumpels dumm daher labern dürfen, eine leidliche Struktur gegeben. Neu ist das nicht, aber Nelly rappt halt besser als die meisten anderen. Vor allem aber ist sein Stil gut zu vermarkten, weil zwar lyrisch nicht allzu avanciert, dafür aber rhythmisch wie kaum ein anderer. Immer wieder kippt sein Rap in Singsang, benutzt er Lautmalereien und setzt Akzente mit „Ey“s und „Uuh“s. Das ist wenig einfallsreich, aber effektiv. Einen Nelly-Rap erkennt man sofort, weil niemand sonst die Silben so musikalisch am Beat entlang fließen lässt.

So schält sich mit jedem Hören aus „Nellyville“ ein neuer potienzieller Hit, auch wenn die Hooklines nicht gar so eingängig daher säuseln wie noch auf „Country Grammar. Die „# 1“ hat Nelly brillantenbesetzt und in schwerem Platin längst um den Hals baumeln, der gleichnamige Song stammt bereits aus dem Drogencop-Thriller „Training Day“, findet sich hier aber auch noch einmal. So fügt sich das Album als Mosaikstück bruchlos in den Masterplan von Nelly, dessen Ziel die Komplettübernahme des Rap-Markts ist – auch wenn diese natürlich nur postuliert wird. Dieses Erfolgsrezept wird mit Filmrollen („Snipes“ ist bereits abgedreht), einer eigenen Comedy-Serie (in Arbeit) und durch die eigene Klamottenmarke „Vokál“ ergänzt, die den älteren Protagonisten des Prinzips Arroganz wie Jay-Z („Rocawear“), Master P („No Limit“) und P. Diddy („Sean John“) Konkurrenz macht.

Dagegen wirkt J-Luv vergleichsweise bescheiden. Sein Debütalbum „Kontraste“ aber katapultiert ihn immer aus dem Stand in die zweite Liga des deutschsprachigen Souls. Dort drängelt es sich unter dem unangefochtenen Branchenprimus Xavier Naidoo. Mit seinem Entwurf setzt sich J-Luv allerdings konsequent von seinen Kollegen ab: Laith Al-Deen oder Ayman versuchen, Kuschelsoul auf mitteleuropäische Verhältnisse zu übertragen, überführen die eindeutige Sexualisierung des Genres in ein vorsichtiges Hintergrundbrummen und kippen so mitunter ins Schlagerhafte. J-Luv dagegen übersetzt US-Vorbilder nahezu ungebrochen. Anders gesagt: Julian Williams, 23, fühlt tief, richtig tiiiief. Außerdem kriegt er jederzeit einen hoch, und das sollen alle „supergeilen Nixen“ zwischen Flensburg und Bodensee auch erfahren.

Allerdings: Das Verlangen, sein Verlangen zu thematisieren, führt zur inflationären Verwendung des Wörtchens Liebe und nimmt nahezu notgedrungen des öfteren parodistische Züge an. „Herzen glühen“, „Gefühle rasen“ und überhaupt liegt über allem ein unangenehm schmieriger Gesamteindruck. Vom Lovers Rock zur Leidenspose sind J-Luv und seine einen Hauch zu piepsige Stimme selten mehr als einen Stöhner entfernt, die Peinlichkeit ist dann oft nur noch einen Seufzer entfernt. So verkommt auch „X-Rated“, die explizite Darstellung einer Nacht mit reichlich „ich unten, du oben“, zur kalkulierten Provokation.

Auch musikalisch orientiert sich J-Luv an den Genre-Standards, die in den USA gesetzt werden. Dort grassieren immer noch die verschwurbelten, unruhigen Beats, die Timbaland, Missy Elliott und die Neptunes (siehe vorige Seite) mit ihren Produktionen definiert haben. Dieses international abgesicherte Format ahmt Produzent Thomas Hofmann für „Kontraste“ ebenso perfekt nach wie den eher traditionelleren Schnulzensound, ohne Angst vor übergroßen Gefühlen. Es ist derselbe Thomas Hofmann, der als Partner von Moses Pelham beim Frankfurter Label 3p dereinst auch Naidoo lancierte. Dessen bibeltreuen Klagegesängen gab man damals ebenfalls keine großen kommerziellen Chancen, schienen sie doch allzu oft ins Peinliche zu lappen. Die Popgeschichte aber verlief anders. Hat Hofmann sein Gespür nicht verloren, droht uns demnächst wohl eine Welle notgeiler R & B-Klone.

THOMAS WINKLER

Nelly: „Nellyville“ (Universal); J-Luv: „Kontraste“ (3p/Mercury/Universal)

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