Die letzte Schulparty

Jedes Jahr wird in der Metzinger Stadthalle ein großer Abend zelebriert. Beim Abiball siedet das Menschenexperiment dreizehnjähriger Zwangsgemeinsamkeit auf dem Höhepunkt. Am nächsten Morgen fängt das Leben an. Das eigene

von HENNING KOBER

Es liegt Erregung in der Luft. Die an einen Betonbunker erinnernde Stadthalle in Metzingen, einer Kleinstadt am Fuße der Schwäbischen Alb, ist der Schauplatz, an dem heute für die Abiturienten des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums der letzte Akt des Stücks Schule gegeben wird. Die Bühne ist mit Buchenzweigen geschmückt, davor sitzen in zwei Stuhlreihen die Abiturienten.

Die Jungen im Anzug, die Haare mit viel Gel nach hinten oder zur Seite gekämmt. Die Mädchen mit Hochsteckfrisuren und in Kleidern. Xenia, die einem gleich auffällt, trägt zu heller Bluse und rotem Hippierock weiße Turnschuhe mit lila Schnürsenkeln. Das reicht für die Exotenrolle. Die zahlreichen Kommentare, die sie sich von ihren Mitabiturienten anhören musste, fasst sie trocken in zwei Sätzen zusammen: „Geh mal lieber barfuß“ und „Total geil“. Sie lächelt.

Während sich letzte zu spät kommende Eltern an den Tischen einen Platz suchen, eröffnet auf der Bühne der Unterstufenchor mit „Dracula-Rock“ den Abend. Dann hält Direktor Reinhard Brandt, ein groß gewachsener, kräftiger Mann, der einmal selbst Schüler an dieser Schule war, seine Rede über gymnasiale Ansprüche, dabei das Schulgesetz zitierend. Vielleicht in der Eile das falsche Manuskript gegriffen?

Ein Mädchen in der ersten Reihe flüstert ihrer Freundin etwas ins Ohr. „Bleiben Sie von guten Mächten wunderbar geborgen“, endet Brandt wie gewöhnlich mit einem Bonhoeffer-Zitat. Die echte Reifeprüfung folgt allerdings erst: Professor Dr. Dr. Eberhard Schaich, ebenfalls ehemaliger Schüler des Gymnasiums und inzwischen Rektor der Universität Tübingen, hält über die Universität im Allgemeinen, Studiengebühren und attraktive Naturwissenschaften im Besonderen eine ausdauernde Rede, gegliedert in zehn Thesen.

Die vorher noch stolzen Gesichter der Eltern kämpfen müde um einen interessierten Ausdruck, das Mädchen in der ersten Reihe ist vom Flüstern in echte Unterhaltung umgeschwenkt. Umso euphorischer der Jubel, als Abiturient Markus auf die Bühne geht und zu seiner Scheffelpreisrede ansetzt. Dieser nach dem badischen Lyriker Victor von Scheffel benannte Preis wird in Baden-Württemberg an den jeweils Besten aus dem Leistungskurs Deutsch verliehen.

In der Klugheit des Augenblicks fragt Markus etwas zu klug: „Hat uns das Gymnasium gut aufs Leben vorbereitet?“, und nennt die Schule „schützend und einschränkend zugleich“. Zum Teil büße man als Schüler Selbstständigkeit ein, sagt er weiter. Dann benutzt er den abgenutzten Begriff von der Spaßgeneration, zu der man ja „irgendwie“ auch gehöre, die er aber für zweifelhaft halte. Irgendwie.

Er spricht konzentriert und ernst, verschluckt jedoch manchmal vor Aufregung eine Silbe. Man hat das Gefühl, der Neunzehnjährige habe mit seinem Abi einen Berg überwunden und schon tue sich der nächste vor ihm auf. Aber genau das trifft den Nerv seiner Zuhörer. Beim Klatschen erheben sich die ersten, bald steht die ganze Stufe. Vielleicht der letzte Moment völliger Gemeinsamkeit. Mein Nachbar sagt lapidar: „Wirklich doof, wenn man merkt, das Leben geht los, obwohl es doch schon längst in vollem Gang ist.“

Was sind das für Menschen, die jetzt da vorne stehen? Vom Direktor bekommen sie gelbe Zeugnisblätter in Klarsichtfolie überreicht, hinter ihnen projiziert ein Beamer Babybilder von schokoladenverschmierten Gesichtern auf eine Leinwand. Strahlend stolze Eltern sorgen mit ihren Kleinbildkameras für Blitzlichtgewitter, vielleicht für das letzte Bild in ihrem Kinderfotoalbum. Laut Umfrage in der Abizeitung wollen die Schulabsolventen Wirtschaftsingenieur, Kommunikationsdesignerin, Außenökonomin, Grundschullehrerin und Biertester werden. Ihre Lieblingsschimpfwörter sind: „Scheiße“, „Hoden“ und „Goddesmongo“.

Die Hälfte von ihnen raucht. Am liebsten Marlboro und Gauloises. Nur fünf Prozent wollen keine Familie gründen. Bei 68 Prozent der Jungs kaufen die Mütter immer noch die Unterwäsche. 78 Prozent der Jungs und 70 Prozent der Mädchen haben schon mal einen Porno gesehen. Beruhigend zu wissen, dass in einem Jahr schon alles ganz anders sein wird. Joscha gehört nicht zu dieser Schnittmenge. „Mich haben sie nur zur Person mit dem schwerstumkämpften Führerschein gewählt“, erzählt der Junge mit den blonden Rastazöpfen.

Im Frühjahr, als alle fürs Abi gelernt haben, hat er jeden Tag zwanzig Seiten an seinem Buch über das Computertool Flash geschrieben. Am Tag vor dem Abiball sitzt er in seinem aufgeräumten Zimmer im Haus seiner Eltern und soll über die Zukunft sprechen. Für ihn ist das, was es ist: Zeit, über die er ab sofort frei verfügen kann, kein nebulöser, leicht rosa schimmernder Traum. Joschas Freundin wohnt hier, also will er auch hier bleiben. „Vielleicht gehe ich an die Universität Hohenheim bei Stuttgart. In die USA kann ich auch noch nach dem Grundstudium gehen“, sagt er weiter, „im Sommer vielleicht nach Kanada.“ Joscha ist nicht verplant und nicht planlos, aber er geht auf im Heute, in dem für die Zahl der Optionen zwei Hände nicht ausreichen.

Es ist schon lange dunkel geworden über der Stadthalle, die Reden des offiziellen Teils sind vergessen, das Festprogramm unter der Regie der Schüler ist fortgeschritten. Der Pächter serviert Schnitzel mit Pommes und brauner Soße, es wird viel Bier getrunken. An den Tischen darf geraucht werden.

Alles scheint in einem Zeitloop gefangen. Jedes Jahr das Gleiche mit wechselnder Besetzung. Auf der Bühne präsentieren die Leistungskurse kurze, launige Einlagen, an deren Ende immer Geschenke an den engagierten Lehrer überreicht werden. Das Verhältnis war bestens, selten habe man so viel gelernt. Der Dank materialisiert sich in unverfänglichen Musicalkarten, Blumen, Fotos oder Selbstgebasteltem, mit Unterschriften von allen, natürlich. Erleichterung in den Lehrergesichtern, eine der wenigen Bestätigungen, doch den richtigen Beruf gewählt zu haben.

An dem Tisch, der traditionell für die Lehrer reserviert ist, sitzt Direktor Brandt, ein leiser Mann und ein Sportler durch und durch, der immer wieder versucht hat, seine Schüler für das Wandern zu begeistern. An schlechten Tagen joggt er auf die Schwäbische Alb, in den Sommerferien „macht“ er Gipfel in den Alpen – von West nach Ost, von Nord nach Süd.

Als beim traditionellen Abischerz Schüler mit Wasserpistolen über den Schulhof rannten, war er erschrocken, hatte mit den Schülern gesprochen, ob das sein müsse, nach dem, was vor wenigen Wochen in Erfurt passiert sei. „Aber es ging da vor allem um Wasser und Sonne“, sagt er jetzt beschwichtigend, nichts unnötig aufbauschend. Trotzdem, das Trauma von Erfurt strahlt auch ein bisschen nach Metzingen aus. „Ich weiß, dass man als Direktor ganz automatisch für manche Leute ein Feindbild darstellt. Und obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass so etwas bei uns in Metzingen passiert, kann man es einfach nicht wissen“, sagt er.

Auch dieses Jahr haben wieder vier Schüler das Abitur nicht bestanden, meist ging es nur um einen oder zwei Punkte, die am Ende wie ein unverschämtes Nichts in dreizehn Jahren Schule wirken. Brandt hat lange mit ihnen geredet. „Die Qualität eines Lehrers zeigt sich doch darin, wie er eine Fünf zurückgibt“, sagt er überzeugt und schaut auf sein Weizenbier. „Aber natürlich waren die Schüler nicht gefährdet, etwas Unvernünftiges zu tun“, beeilt er sich hinzuzufügen. Natürlich.

Um halb drei Uhr wird das letzte Lied gespielt. Die Eltern sind bis auf einige wenige Standfeste nach Hause gegangen, die Abiturienten müssen die Stadthalle aufräumen. Wer sich nicht verpflichtet fühlt – das sind die meisten –, geht schon vor zur Afterparty. Die findet im Club Thing statt, der seit über drei Jahrzehnten hauptsächlich von Gymnasiasten selbst verwaltet wird. Mangels Alternativen seit Generationen Schauplatz erster Küsse, Kampftrinkens oder Tanzens, bis die Sonne wieder auftaucht.

DJ Tune, ein Junge aus der Stufe, hat Aaliyahs „More Than A Woman“ aufgelegt. Cola ist aus, deshalb wird der Rotwein mit Spezi gemixt. An den wenigen Tischen sitzen die Mädchen auf den Knien ihrer Freunde, die Tanzfläche wird von mehr und weniger betrunkenen Schülern und Abiturienten beherrscht. Auch einige junge Lehrer sind mitgekommen. Zwei Stunden später, als schon die Helligkeit durch die Tür dringt, sitzt Xenia, das Mädchen mit den lila Schnürsenkeln und den weißen Turnschuhen, an einem Clubtisch und schreibt einen Brief an eine Freundin.

Warum ist es auf einmal so leer? Sie blickt kurz auf. „Viele sind noch zur Geburtstagsparty von Bettina gegangen.“ Keine gemeinsames Feiern bis zum Schluss? Xenia zuckt mit den Schultern. „Ich weiß sowieso, dass ich meine fünf Leute in dieser Stufe hab. Mit denen ich richtig eng bin. Aber alle anderen …“

Sie beendet den Satz nicht. Bald wird sie nach Berlin ziehen, um Dramaturgie zu studieren.

Der erste Tag nach der Schule hat begonnen.

HENNING KOBER, 21, lebt als freier Autor in Berlin und London. Vor einem Jahr machte er am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Metzingen selbst Abitur