Geschichtswerkstatt lädt zur Litera-Tour auf Kanälen

Eine historische Dampferfahrt auf der Spree gibt Einblick in das literarische Berlin. Und in die wechselvolle Geschichte der Hauptstadt

Familie Hoffmann ist komplett. Papa, Mama, Sebastian, seine Schwester und die Großtante Margarethe sitzen an Deck. Die Wuppertaler haben ihre Tante aus Berlin zu einer Spreefahrt eingeladen. Jeden Sommer bietet die Berliner Geschichtswerkstatt historische Stadtrundfahrten an. Heute steht eine Litera-Tour auf dem Programm. Die Tante darf sich auf literarische Kostproben über ihre Stadt freuen.

Leinen los! Am Märkischen Ufer legt man ab. Aus den Lautsprechern schallt Musik. Begleitet von einer DDR-Rockgruppe setzt sich die „Elfe“ in Bewegung. Etwa 30 Literaturbegeisterte sitzen an Deck. Viele essen Apfelkuchen und trinken Tee. Drei Stunden wird die Fahrt dauern. Mitten durch die Stadt wird es gehen, von der Spree in den Landwehrkanal wieder in die Spree. Ein Schauspieler liest die Texte vor. Jürgen Karwelat und Sema Binia von der Geschichtswerkstatt geben Auskunft über die Sehenswürdigkeiten Berlins.

Wir passieren die Mühlendammerschleuse. Auch Fontane ist hier entlang gefahren. „Das Wetter war prachtvoll“, schwärmte er seinerzeit von einer Dampferfahrt auf der Spree. Über uns leuchtet der Himmel blau. So gelangen wir an die Münzbrennerei. Und weil hier schon DDR-Arbeiter Geld geprägt haben, spielt Karwelat die Nationalhymne der Arbeiterrepublik. „Auferstanden aus Ruinen“, erschallt an Deck. Im Nikolaiviertel lässt Karwelat Bilder der DDR-Protestbewegung aufleben. Als er erzählt, sehen wir Stasimitarbeiter auf der Rathausbrücke stehen. Von vorn drängen Demonstranten. Sie wollen zum Palast der Republik. Aber an der Stasi kommen sie nicht vorbei. Heute stehen Touristen auf der Brücke. Sie winken, als wir hindurchgleiten.

Ein Stück von Wolf Biermann folgt, dann am Berliner Ensemble Bertolt Brecht. Am Schiffbauerdamm haben sich Bettina von Brentano und Achim von Arnim verlobt. Vorn taucht der Reichstag auf. Wir fahren vorbei. Auf Mitte folgt Tiergarten und auf Tiergarten Moabit. Hier in der Nähe wurde Tucholsky geboren. Weitere Berlinbetrachtungen folgen. Friedrich Engels dachte schon vor mehr als 100 Jahren, Berlin entwickele sich nun endlich vom Unglücksnest zur Weltstadt. Erich Kästner drückte Berlin in Zahlen aus. „700.000 Hühner, Gänse, Tauben. 84.000 Damenschneider.“

Während wir der Statistik lauschen, geht die Spree in den Landwehrkanal über. Vorn taucht eine rosarote Brücke auf. Die Lichtensteinbrücke glänzt in der Sonne. „Von dort wurde der tote Körper Rosa Luxemburgs in den Kanal geworfen“, erzählt Karwelat. Der Reporter Egon Erwin Kisch schrieb eine Reportage darüber. Da sieht man die Nacht, in der der Mord geschah förmlich vor sich: Auf der Brücke stehen Gardeoffiziere. Ein Auto fährt vor. Männer zerren einen Körper aus dem Wagen. „und dann wurde Rosa ins Wasser geworfen“, endet der Text.

Wir fahren und fahren. Bikinischönheiten sonnen sich auf der Uferböschung. Tante Margarethe würde sich hier nicht hinlegen. Ein Afroafrikaner mit langen Rastas sitzt neben einem Asiaten. Daneben raucht ein Mädchen mit hennagefärbten Haaren. Wir sind in Kreuzberg. Karwelat deutet auf ein Haus am Schöneberger Ufer. „Hier war die WG von Rio Reiser“, erzählt er. Die Passagiere recken die Köpfe. Binia legt ein Stück des Sängers der 70er-Jahre-Politband „Ton, Steine, Scherben“ auf. Dann lauschen wir dem, was Rio Reiser machen würde, wenn er „König von Deutschland wär“. Passagier Sebastian möchte einmal was Kreatives machen, Architektur oder so. Tante Margarethe hatte den Vierzehnjährigen nach seinen Berufswünschen gefragt.

An der East Side Gallery hören wir Mauergeschichten. Zum Schluss beschreibt der Zwanzigerjahre-Theaterkritiker Alfred Kerr eine Fahrt auf der Spree. Mitgebrachte Stullen aß man. Nur die Sonne fehlte. „Das ist ein Elend in diesem Sommer.“ Kerr könnte auch von diesem Sommer sprechen. Das Wetter ist wieder schlechter geworden. Die Passagiere haben ihre Anoraks angezogen. Bevor es regnet, legt das Schiff an. Vater Hoffmann macht noch ein Foto von der ganzen Familie. Die Mutter lobt die Fahrt: „Besser als andere Touren, wo man nur Gebäude anguckt.“ Auch Tante Margarethe fand’s interessant. Aber nach drei Stunden sitzen tut ihr jetzt der Hintern weh. SUSANNE VANGEROW

Kontakt: Tel. 2 15 44 50