sommerkrimi

Folge 14

14.15 Uhr

Pieter Lund stand in der Wohnung und blickte auf die Kreidezeichnung, mit der Friedbert Eckes, der Chef der Spurensicherung, die Umrisse der Leiche Gerd Novitzkis markiert hatte. Eckes und seine Leute hatten gerade das Feld geräumt. Lund hatte es vorgezogen, sich nach einer ersten Bestandsaufnahme auf den Spielplatz zurückzuziehen. Auf diese Weise hatte er den flauen Magen und das Herzrasen einigermaßen in den Griff bekommen, das ihm der Anblick des grausam zugerichteten Toten verursacht hatte. Was war das für ein Typ? Gerd Novitzki, Sozialarbeiter, 46 Jahre alt. Rauschgiftkurier. Soweit hatte er ihn schon vor seinem Ableben durchleuchtet. Offenbar alleinstehend. Unsinn. Allein wohnend. Sein soziales Umfeld musste zuerst erschlossen werden. Familie, Lebenspartner, Kollegen, Freunde. Und die Besitzverhältnisse. Natürlich diese Drogen-Geschichte. Vermutlich hing sein grausiges Ende damit zusammen. Sozialarbeiter. Ein Sammelbecken für alle erdenklichen Charaktere. Die linken, engagierten leiteten im Stadtteil die alternativen Projekte. Die haben ein anderes Outfit. So einer war das hier auf keinen Fall. Lund stand vor dem geöffneten Kleiderschrank. Unauffällige Business-Kleidung, keine Extravaganzen. Die Möblierung wahllos, geschmacklos, irgendwo zusammengesammelt. Lund begutachtete das Bücherregal im Wohnzimmer. Pädagogik, Politik, Sozialarbeit, kaum Literatur. Er zog mehrere Bücher hervor und warf einen Blick hinein. Das meiste mehr als zwanzig Jahre alt. Erst der pädagogische Beruf und das soziale Engagement, dann der Frust über die Ausweglosigkeit einer Arbeit in den gesellschaftlichen Randbereichen, die Erkenntnis, dass andere Akademiker drei-, viermal so viel verdienen, schließlich das schnelle Drogengeld. Da wäre der Herr Novitzki nicht der erste. Als Pieter Lund das letzte Buch wieder zurückstellen wollte, fiel sein Blick auf eine Kreditkarte. Sie stand wackelig mit einer Ecke auf dem Regal und lehnte gegen die Wand. Heinz Bäuerl stand darauf. Vermutlich war sie hinter die Bücher gefallen. Vielleicht sogar während des Tatverlaufes. Er fasste die Karte vorsichtig an den Kanten an und steckte sie in einen der kleinen Plastikbeutel, die er für diese Zwecke stets bei sich trug.

Anschließend ging er auf den Balkon und blickte nachdenklich in den Innenhof. Hoffentlich hatte Eckes auch den Hof durchkämmt. Hatte er sicher. Pieter Lund ging zurück in die Wohnung. Er war fertig hier. Später würde er noch einmal zurückkommen, wenn er ein paar Tage über seinen ersten Eindruck nachgedacht hatte und die ersten Ermittlungsergebnisse vorlagen. Mit einem geschärften Blick. Das hielt er immer so. Es hatte sich bewährt.

Im Wagen legte er die Holli-Cole-CD Temptation in den player. Eine eigenwillige Interpretation von Tom-Waits-Songs in klassischer Besetzung, vocals, drums, piano and bass. Kanadas First Lady des Jazz, Holli Cole, sollte Ende Oktober in die Fabrik kommen. Das durfte er nicht verpassen. „Take me home ...“ kam ihre wundervolle Stimme aus den Boxen. Pieter Lund schaute aus dem Fenster. Warum stehen da so viele Leute vor dem TV-Geschäft? Da drüben auch. Machen die ‘ne Sonderaktion?

Take me home, you silly boy

Vorabdruck aus Holger Biedermann, Von Ratten und Menschen, Kriminalroman, erscheint am 28.8. bei Edition Nautilus Hamburg, 192 S., 12,90 Euro, © Edition Nautilus